Kolumnen Kolumne: Das Leben in der Provinz

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Karikatur: Boiselle

Neues Leiden an der alten Provinz

Die einzige stabile Großstadt der Pfalz ist Ludwigshafen, Kaiserslautern eiert immer so um den 100.000-Einwohner-Knackpunkt rum, und das war’s. Der Rest: Provinz. Land. Mittelstädte, Kleinstädte, Verbandsgemeinden, Dörfer. Ist das schlimm? Nö. Hungersnöte sind schlimm, versiffte Autobahnraststättentoiletten können Traumata hinterlassen, aber ob man wirklich fürs Leben gezeichnet ist, wenn man in einem Kaff mit unter 100.000 Einwohnern geboren wurde, ist doch stark anzuzweifeln.

Der Vater Despot, die Klassenkameraden Bullys

Trotzdem könnte man es meinen angesichts der Werke nun in Großstädten (Kaiserslautern?) sich endlich frei entfaltender Kulturschaffender, die der „Provinzhölle“ gerade noch so entkommen sind. Denn eine Hölle war und ist es immer, alles so kleingeistig, alles so spießig, der Vater ein Despot, die Mutter ein im Akkord Rollbraten rollendes Opfer, die Geschwister fies, die Klassenkameraden Bullys, der Lehrer ein Arsch, der Pfarrer scheinheilig, und irgendwo haben die ganzen Dorfdeppen immer eine Leiche im unbetonierten Sandkeller verscharrt. Mittendrin der unverstandene, leidende (Drehbuch)Autor, der „hier weg muss, bevor ihn die Enge erdrückt“ und der als Einziger bei der frühreifen Dorfmatratze abgeblitzt ist, worüber er 30 Jahre später noch weinerliche Novellen schreiben muss.

Der zugezogene Dorfhengst endet im Fass Und es geht hier jetzt nicht nur um die Pfalz, solch regionale Beschränktheit wäre ja voll provinziell. Der letzte Polizeiruf am Sonntagabend spielte in Sachsen-Anhalt, das Magdeburger Team ermittelte in einem staubigen Dorf, in dem mal wieder hinter den Fassaden das Grauen lauerte in Gestalt von Despoten (bingo), diesmal bewaffnet, herrischen Ommas, treudoofen Männern (der Bäcker, der Automechaniker, der Biobauer) und ihren Frauen, in der Mehrzahl unbefriedigte Landpomeranzen, die allesamt einem zugezogenen, schmierigen Hallodri verfallen. Die mit der dicken Brille will er nicht (sie sollte das später unbedingt in einer Novelle verarbeiten), ansonsten rammelt sich der Schmieri einmal längs durch die Hauptstraße, Nebenstraßen gibt’s keine, und die schönste und dummste Landpomeranze von allen lässt sich natürlich auch noch ein Kind anhängen von dem Windei. Ganz klar, dass der Lump von der Dorfgemeinschaft abgemurkst und in ein Fass mit Katzenstreu gestopft wird. So geht das zu in der Provinz. Die Enge (im Fass ist wenig Platz). Die Hölle. Tod im Häcksler. Oder so.

Abgedroschenes Mimimi

Wenn es etwas Provinzielles gibt im Sinne von „von geringem geistigem, kulturellem Niveau zeugend“ (danke, Wikipedia), dann abgedroschenes Mimimi über die unterbelichtete und grausame Provinz, die dem aus ihr geflüchteten Schöngeist „die Luft zum Atmen“ raubt. Das muss ich jetzt hier doch mal sagen. Ich wohne und wohnte zeitlebens in Gemeinden mit unter 100.000 Einwohnern, und noch nie habe ich im Katzenstreu etwas anderes gefunden als Katzenpipi- und Katzenkackaklumpen. Obwohl, doch, einmal ist mir die Sonnenbrille reingefallen, aber lassen wir das. Meine Mutter hat Rollbraten zubereitet, das ja, aber ich hatte keine Veranlassung, das als Akt dörflicher Unterdrückung zu interpretieren. Besser als Schnitzelklopfen sonntagsmorgens, wenn man im unter der Küche gelegenen Jugendzimmer noch schlafen will. Die Pfarrer waren okay. Unbewaffnet. Keine Schmieris weit und breit.

Heuliboy heult auch in der großen Stadt

Ich habe da so eine These: Die an der Provinz so sehr verzweifelnden ehemaligen Bewohner derselben waren vielleicht schlicht unbeliebt in ihrem Herkunftskaff und sind es möglicherweise auch jetzt in der urbanen Umgebung noch. So was kommt vor. Bedenke: Auch in Kaiserslautern (?), Hamburg oder Karatschi mögen die Menschen keine dauerhaft über die düstere Heimat klagenden Heuliboys. Zumal man in Karatschi ganz andere Probleme hat.

Die Autorin

Sigrid Sebald (50) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten.

Die Kolumne

Christine Kamm und Sigrid Sebald schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne "Ich sehe das ganz anders" über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

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