Sport Das letzte Hemd: Robert Harting hört auf

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Diskuswerfer Robert Harting war Weltmeister, Olympiasieger, zugleich Popstar und „Enfant terrible“ der deutschen Leichtathletik. Heute beendet er beim Istaf in Berlin seine großartige Karriere. Was bleibt? Medaillen, Titel, zerrissene Trikots – und der Wunsch von Oma Renate.

Es stürmt und regnet an diesem 13. August 2014 im ungemütlichen Letzigrund. Der Wurfring ist glitschig, Robert Harting rutscht, stürzt, verletzt sich an der Hand. Und gewinnt trotzdem. Doch das Nationaltrikot wieder zu zerreißen, wie damals 2009 in Berlin, 2011 in Daegu, 2012 in London oder 2013 in Moskau, an den Stätten seiner Triumphe, wo er drei WM-Titel und Olympiagold feierte – nein, das war einmal. Harting zieht das Hemd aus, legt es auf den Boden und liebkost es. „Ihr gefällt es nicht“, sagte der Olympiasieger im Diskuswerfen nach seinem EM-Sieg im Züricher Letzigrund. „Oma ist eine andere Generation. Da kommt es nicht gut an, wenn man ein Lump ist und das Trikot zerreißt.“ Ach ja, auf Oma Renate, deren Thüringer Klöße mit Rouladen und Rotkraut dem Robert so gut schmecken, hört er schon gerne mal. Sie packte ihm ja auch immer ein Schächtelchen Pralinen ein. Der Lump, der Flegel – war er erwachsen geworden? Das „Enfant terrible“ der deutschen Leichtathletik nun das Gesicht derselben? Mit nur noch weichen, ganz zahmen Zügen?

Harting siegte wie im Rausch

Dieser EM-Titel von Zürich war wohl am schwierigsten zu gewinnen. Viel schwieriger als 2009, als er dem Polen Piotr Malachowski erst im letzten Versuch den WM-Sieg wegnahm. Aber Robert Harting warf und siegte damals wie im Rausch. Zigtausende verwandelten das Berliner Olympiastadion in ein Tollhaus. Es wurde sein „Wohnzimmer“, wie Wimbledon das Wohnzimmer von Boris Becker war. Allzu viele Wohnzimmer hat die deutsche Sportgeschichte nicht, und allzu viele Stars, Idole, vielleicht sogar Helden wie Becker oder Harting auch nicht. Manche davon schwebten ganz oben und sind abgestürzt oder in der Versenkung verschwunden. Robert Harting droht dieses Schicksal nicht unmittelbar. Dafür hat er dann doch nicht so viel Geld verdient, dafür hat er sich schon während seiner Karriere viele blaue Flecken geholt, dafür hat er seriös sein Bachelorstudium an der Universität der Künste in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation abgeschlossen.

Ruf für die Ewigkeit

Vor drei Wochen in Berlin, einen Tag nach dem sechsten Platz in seinem letzten internationalen Wettbewerb, sagte Robert Harting: „Abends am 2. September ist alles besiegelt. Ich werde am 3. September aufstehen und endlich nicht mehr fragen: Wie kriege ich das heute mit dem Training hin?“ Er hat sich seinen Ruf für die Ewigkeit hart erarbeitet. Acht von zehn Befragten auf der Straße würden wohl Harting als den bekanntesten deutschen Leichtathleten nennen. Robert Harting wohlgemerkt, denn so viel hat sich herumgesprochen: Es gibt zwei Hartings, Robert und Christoph. Aber nur einen, der als „der Harting“ durchgeht. Als Popstar unter Sportlern, als King Robert unter den Diskuswerfern oder als „Shaggy“ unter Freunden.

In Mannheim hat alles begonnen

Dreimal in Folge war er Deutschlands „Sportler des Jahres“. Ein Vorbild. Ein Widerspruchsgeist. Eine Lichtgestalt. Zumindest, als er während der diesjährigen EM eine Woche lang nachts an das Upper-West-Hochhaus in Berlin projiziert wurde. Und er war eben der Herrscher im Ring, immer vom Gewinnenwollen angetrieben. Hoch gelobt vom Bruder, obwohl alle wissen, dass die beiden sich nicht mögen: „Ich habe diesem Menschen mehr zu verdanken als jedem anderen im Sport. Er ist der Grund, weshalb ich Leistungssport mache. Und dafür möchte ich danke sagen“, versichert Christoph Harting. Angefangen hatte es mit der internationalen Karriere dort, wo viele großen Leichtathletikkarrieren beginnen: in Mannheim. Bei der DLV-Junioren-Gala 2003 schleuderte Harting als 18-Jähriger die Scheibe auf exakt 63 Meter. Den Namen wird man sich merken müssen, spürten die, die dabei waren. Es folgten erfolgreiche wie mühsame Jahre. Patellasehnen- und Kreuzbandoperationen, eine Kopfhaarverpflanzung gegen lichte Stellen, viele eigene Bilder in der abstrakten Malerei, die „Erfindung“ der Deutschen Sportlotterie. Gold- und Silbermedaillen, die Bestweite von 70,66 Meter. Nur den Weltrekord von 74,08 Meter verfehlte er. Dennoch: Welch eine Karriere!

Harting: "Ich muss nicht mehr Gold holen"

Gefühlt beendet war sie im August 2016 in einem Apartment in Rio de Janeiro, als Robert Harting beim Versuch scheiterte, den Lichtschalter vom Bett aus mit dem Fuß zu betätigen. Ein Hexenschuss vereitelte ihm die Wiederholung des Olympiasieges. Dass das Gold in der Familie bleibt, ahnte der daniederliegende Robert Harting damals nicht. Und vor Olympia in Rio wusste er: „Ich bin jetzt in der Lage, es schaffen zu können, nicht mehr, es schaffen zu müssen. Ich muss nicht mehr Gold holen. Nicht, weil ich es schon mal geschafft habe, sondern weil ich das Ganze mit einer anderen Denkweise angehe“, sagte Harting. Also doch: Der technisch so überzeugende Diskuswerfer, der, wie sein Trainer Werner Goldmann einmal sagte, „ein ganz besonders gutes Gefühl hat, den Diskus in den Wind zu legen“ , war erwachsen geworden. Harting nahm es allzu gerne mit den starken Sportpolitikern auf; mit Thomas Bach, dem IOC-Präsidenten, und mit Clemens Prokop, dem DLV-Präsidenten – mit beiden pflegte er eine besondere Feindschaft. Harting war nie ein Leisetreter, aber auch kein Lautsprecher. Nur einer, der ganz vernehmbar seine Meinung vertrat, dabei oft gegen den Strom schwamm.

Seine Welt wird keine Scheibe mehr sein

Es ist nicht auszuschließen, dass das Zerreißen des Trikots das letzte Quäntchen Popularität in die Mixtur von Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit, von Leidensfähigkeit und Wiederaufstehen gab – bis eben Oma Renate ihr Veto einlegte. Aber da war er ja schon „der Harting“. „Ich werde weiterhin mit meiner Frau zusammenleben, da wird Leichtathletik ja schon noch eine große Rolle spielen“, sagte der gebürtige Cottbuser nach den Europameisterschaften, bei denen er offiziell seinen Abschied verkündete. Mit 33 fängt sein zweites Leben an. Mit Julia Fischer, der Diskuswerferin, will er eine Familie gründen und Kinder groß ziehen. Seine Welt wird dann keine Scheibe mehr sein. „Der letzte Schrei“ heißt heute das Motto des Internationalen Stadionfestes Istaf. Hoffentlich erinnert er sich an Oma Renate und zerreißt nicht noch das letzte Hemd.

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Küsschen für Oma Renate.
Von oben nach unten: Küsschen für Oma Renate, Gold in London 2012, Herr im Ring.
Gold in London 2012.
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Herr im Ring.
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