Panorama Aufräumen ist der neueste Trend im Internet

Marie Kondo (Mitte) gibt Tipps zum Aufräumen – mittlerweile hat sie auch eine Serie bei Netflix.
Marie Kondo (Mitte) gibt Tipps zum Aufräumen – mittlerweile hat sie auch eine Serie bei Netflix.

Die Kisten türmen sich bis zur Decke, in die Garage passt kein Auto mehr: Eine Netflix-Serie widmet sich vollgestopften US-Haushalten, die unter den Händen der japanischen Aufräumfee Marie Kondo vorzeigbar werden. Nachahmer fluten das Netz mit ihren Erfahrungen.

In vielen Haushalten häufen die Leute in diesen Tagen Klamotten zu riesigen Bergen an. Sie holen alle Oberteile und Hosen aus Schränken, Schubladen und aus im Keller vergessenen Kisten. Warum? Erklärtes Ziel ist ein heilsamer Schock: die Erkenntnis, wie viele Teile man da angesammelt hat. Ausmisten soll so leichter fallen, glaubt man Gurus der Szene wie der japanischen Bestsellerautorin Marie Kondo. Nicht zuletzt mit ihrer neuen Netflix-Serie hat sie die verhasste Kindheitsaufgabe zu einer Art Trendsportart gemacht.

Nachhilfe im Aufräumen nötig

In „Aufräumen mit Marie Kondo“ hilft die Mittdreißigerin US-Amerikanern, wieder die Kontrolle über das Leben zu gewinnen. Stets adrett und in pastelligen Farben gekleidet, referiert sie über das richtige Zusammenfalten von Tops, die Aufbewahrung von Fotos in Alben und das Verstauen von Weihnachtsdeko. Dabei brauchen Menschen im Jahr 2019 allem Anschein nach Nachhilfe. Das Internet ist voll mit Illustrationen, die zum Beispiel Kondos Falttechnik für Kleidung Schritt für Schritt erklären – eine Art Origami für Jeans und T-Shirts, damit diese am Ende in der Schublade stehen statt liegen. Für die bessere Übersicht. Die wohl wichtigste Kondo-Regel fürs Ausmisten: Behalten soll man nur Dinge, die Freude entfachen. Freude? So, wie wenn man einen Welpen halte, formuliert es Kondo. Resultat sind in einer Folge ihrer Serie 150 große Müllsäcke voller Kram – aus einem Haushalt.

Ordnung als Statussymbol

Kondo erreicht schon länger auch auf YouTube Zigtausende. Den sozialen Medien hat sie neue Statussymbole beschert: Neben definierten Körpern, stylishen Klamotten und lockeren Milchschaumhäubchen zeigen Nutzer nun Schubladen mit perfekt gefalteten T-Shirts. Auf Facebook gibt es allein im deutschsprachigen Raum mehrere Aufräumgruppen mit Tausenden Mitgliedern, in denen Tipps und Erfolge geteilt werden. Schaut her, ich habe mein Leben im Griff – auch diese Botschaft steht bei manchen Beiträgen zwischen den Zeilen. Aufräumen soll gemäß Kondo nicht weniger als eine Lebensveränderung sein. In der Serie zeigt sich Kondo darüber hinaus überzeugt, dass Paare durch Aufräumen näher zusammenfinden und eine Bereicherung ihres Alltags erleben. „Das bisschen Haushalt“ und alles was dazu gehöre, sei tatsächlich sehr häufig der – scheinbare – Stein des Anstoßes in Beziehungen, sagt die Berliner Paartherapeutin Daniela Bernhardt. Wenn der Haussegen schief hänge, liege das aber selten wirklich an der falsch eingeräumten Spülmaschine oder den rumliegenden Socken: Abnehmende Toleranz und Verweigerung könnten Folge tieferliegender Konflikte sein – „wie etwa mangelnde Wertschätzung oder fehlende Erotik“, so die Expertin.

Überfluss als Gegenbewegung

Einen Grund für den Sammeltrieb sieht der Hamburger Aufräumcoach Clemens Neuhauser in einer „tiefen Prägung“: Sammeln habe sich im Laufe der Evolution bewährt. Erst seit etwa 1950 gebe es materiellen Überfluss, im Umgang damit sei das menschliche Gehirn aber überfordert. „Schnäppchen fühlen sich einfach großartig an“, sagt Neuhauser über überflüssige Käufe. Viele seiner Kunden hätten Kondos Bücher gelesen, sagt Neuhauser, der eigentlich Architekt ist. Ihre Strategien hält er für hilfreich, um Strukturen zu schaffen, in denen Ordnung möglich ist: etwa eine neue Einteilung für den Schrank. Nach seiner Erfahrung besitzen manche Menschen aber schlicht zu viele Dinge, als dass sie überhaupt sinnvoll Ordnung schaffen könnten. Damit einher gehe das Problem loszulassen. Wer sich damit schwer tut, muss nun nicht verzagen. Wie bei jedem Trend gibt es auch beim Minimalismus Gegenbewegungen. „Es lebe der Überfluss!“, hieß es kürzlich: Beim Einrichten geht es jetzt wieder um Dekorieren auf Teufel komm raus.

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