Sport Schicksal einer Fallschirmspringerin: Im Aufwind

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Ende 2012 kracht Susanne Böhme beim Fallschirmspringen gegen einen Felsen, von der Hüfte abwärts kann sie sich danach nicht mehr bewegen. Mittlerweile stürzt sich die gebürtige Heidelbergerin in der Südpfalz wieder aus Flugzeugen. Zu Besuch bei einer Kämpferin. Von Sebastian Eder

Mai 2014, Darmstadt. Susanne Böhme sitzt in einem Rollstuhl, hinter ihr steht ihr Mann Sandro. Hunderte Läufer warten neben dem Ehepaar auf den Start des „Wings for Life World Runs 2014“, bei dem das komplette Startgeld in die Rückenmarkforschung investiert wird, um Querschnittslähmung heilbar zu machen. Der Startschuss fällt, Böhme steht vorsichtig auf, ihr Mann setzt sich in den Rollstuhl. Mit einem Rollator durfte Böhme nicht starten, jetzt nutzt sie den Rollstuhl als Gehhilfe. Meter für Meter kämpft sie sich durch die Darmstädter Innenstadt, die Zuschauer feuern sie an. Nach einer halben Stunde fährt das „Catcher Car“ los, das als fahrende Ziellinie einen Läufer nach dem anderen einsammelt. Böhme ist 210 Meter weit gekommen, dann holt das Auto sie ein. Eineinhalb Jahre vorher hängt Susanne Böhme hundert Meter über dem Boden an einem Fallschirm und kämpft mit ihren eigenen Beinen. Sie wollen einfach nicht reagieren. Im Morgengrauen war Böhme mit einem Freund am Schweizer Stachelberg in die Bergbahn gestiegen, der Himmel war klar, die Sonne schien. Auf dem Rücken hatten sie Säcke mit Fallschirmen und „Wingsuits“. Zwischen den Armen und Beinen dieser Flügelanzüge ist Stoff gespannt, Fallschirmspringer können so in der Luft lenken wie Vögel mit ihren Flügeln. Böhme und ihr Kumpel laufen ein Stück, eine dünne Schneeschicht zieht sich über den Boden, dann seilen sie sich mehrere Meter ab. Die Absprungstelle kennen sie bereits, hinter einem kleinen Vorsprung geht es in die Tiefe. Zuerst springt Böhmes Freund, keine Probleme, sie ist dran. Obwohl sie Steigeisen trägt, so rekonstruiert Böhme es später, rutscht sie beim Absprung weg und schlägt mit dem Rücken auf dem Vorsprung ein. Ein Rückenwirbel zerbröselt. Es ist das Horrorszenario jedes Fallschirmspringers, im Normalfall endet es damit, dass der Sportler ungebremst im Boden einschlägt. Bei Böhme, sie hat keine Ahnung mehr wie, öffnet sich der Fallschirm, sie gleitet Richtung Erde. Panik steigt auf. Wie soll sie landen, ohne funktionierende Beine? Irgendwie schafft sie es, ohne sich noch schwerer zu verletzten. Wenig später fliegt sie ein Hubschrauber ins Krankenhaus nach Bern. Diagnose: Querschnittslähmung von der Hüfte abwärts. Nur zwei Muskel im rechten Bein zucken noch ein wenig. Wird sie jemals wieder laufen können? Die Ärzte machen ihr wenig Hoffnung. Böhmes Leidenschaft, die sie 2012 in das Berner Krankenhaus brachte, beginnt 16 Jahre vorher am Flugplatz Herrenteich bei Mannheim. Dort macht sie 1996 ihren ersten Solo-Fallschirmsprung. „Ich wusste sofort, das ist mein Sport“, sagt Böhme. Geboren wurde sie 1979 in Heidelberg, aufgewachsen ist sie in Ladenburg, mit 17 Jahren macht sie ihre Sprungausbildung. Pro Jahr stürzt sie sich danach zuerst 50, dann 100, am Ende 350 Mal in die Tiefe. Flugplätze werden zu ihrer Heimat, im Odenwald beginnt sie als Sprunglehrerin und Fallschirmwart zu arbeiten. 2007 wechselt sie zum Flugplatz Schweighofen in die Pfalz und eröffnet einen Laden für Schirme und Springerbedarf. Auch ihren heutigen Mann lernt sie auf dem Flugplatz kennen. Außerdem trifft Böhme 2000 einen Finnen, der als einer der ersten Produzenten „Wingsuits“ in Deutschland verkauft. „Ich habe das dann mal ausprobiert, blöderweise hat es echt Spaß gemacht“, sagt Böhme. Mit ihrem Mann und ein paar Freunden gründet sie die „Bad Birds Schweighofen“ und tritt bei Wettkämpfen an, in denen es darum geht, welches „Wingsuit“-Team in der Luft die schönsten Figuren macht. Gleichzeitig entdeckt Böhme noch eine andere Variante ihrer Sportart: das Basejumpen. Dabei springt man nicht aus Flugzeugen, sondern von festen Objekten: Felsen, Brücken, Häusern. Um zu verstehen, wie sich ein Sprung verändert, wenn der Fahrtwind aus einem Flugzeug fehlt, springt Böhme aus Heißluftballons. Erst als sie das beherrscht, wandert sie mit ihrem Mann durch die Berge, um sich fernab der Zivilisation in die Tiefe zu stürzen. „Viel mehr Freiheit geht nicht“, sagt Böhme. Irgendwann beherrscht sie beide Disziplinen so gut, dass sie das Basejumpen mit dem „Wingsuit“-Fliegen verbindet. Dann, an jenem sonnigen Herbsttag 2012, rutscht sie vor dem Absprung weg. War das Risiko zu hoch? „Nein, ich war nie leichtsinnig“, sagt Böhme. „Dass ich trotz Steigbügeln abrutsche, ist das Stück Restrisiko, das man nicht kalkulieren kann.“ Wie alle Basejumper musste Böhme schon immer gegen das Image der lebensmüden Draufgängerin kämpfen. „Es gibt ein paar Verrückte in der Szene, die mit ihrem Leben spielen“, sagt sie. Die meisten investierten aber, genau wie sie, unheimlich viel Zeit und Fleiß, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. „Verunglücken“, sagt sie, „kann man auch im Auto“. Es gibt einen handfesten Beweis dafür, dass Böhme mit ihrer Leidenschaft nicht gebrochen hat: Neun Monate nach ihrem Unfall, im August 2013, springt sie wieder aus einem Flugzeug. Ihre Beine hat sie mit Klebeband zusammengebunden, der Rollstuhl wartet auf dem Flugplatz Schweighofen am Boden. Zwei Sprunglehrer begleiten sie, eingreifen müssen sie nicht. Obwohl die Beine etwas zu weit unten hängen, bleibt Böhme in der Luft stabil, bei der Landung lässt sie sich auf die Seite fallen. „Ich will mein altes Leben zurück“, sagt Böhme. „Und das Fallschirmspringen ist ein wichtiger Teil davon.“ 15 Mal springt sie 2013 aus einem Flugzeug. Auch am Boden findet sich Böhme nie damit ab, den Rest ihres Lebens in einem Stuhl zu sitzen. Stattdessen fängt sie an zu trainieren. In ihrer Wohnung in Karlsruhe steht heute ein Fitnessgerät in der Ecke, monatelang hat Böhme daran das Stehen geübt. „Jetzt brauche ich es nicht mehr.“ Stattdessen läuft sie mit einem Rollator schon wieder bis zum Briefkasten, oft nutzt sie auch eine andere Gehhilfe: einen Kinderwagen. Vor acht Monaten hat sie einen Sohn bekommen. Zweimal pro Woche ist sie wieder in Schweighofen, Fallschirme reparieren, ihr altes Leben leben. Anfang Mai wartet die nächste Herausforderung: Beim „Wings for Life World Run“ darf Böhme in diesem Jahr mit Rollator an den Start gehen. Das „Catcher Car“, davon kann man ausgehen, wird diesmal deutlich länger unterwegs sein, bis es Böhme eingeholt hat.

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