Wissen Nur diese eine Rosine

Achtsamkeit meint die Kunst, bewusst zu leben und den inneren Autopiloten abzuschalten. Das zu schaffen, ist enorm schwierig. Doch schon kleine Schritte können uns zu mehr Gelassenheit und Glück verhelfen – auch beim Essen.Achtsamkeit meint die Kunst, bewusst zu leben und den inneren Autopiloten abzuschalten. Das zu schaffen, ist enorm schwierig. Doch schon kleine Schritte können uns zu mehr Gelassenheit und Glück verhelfen – auch beim Essen.

Folgende Anekdote aus Japan: Der Gast genießt nach der Ankündigung seines Gastgebers, der servierte Kugelfisch sei eine der allerseltensten Delikatessen, ihn zu bekommen eine große Ehre, die Mahlzeit Bissen für Bissen. Dabei stellt er fest: Der köstliche Geschmack ist mit nichts zu vergleichen, was er jemals gegessen hat. Da verrät ihm sein Gastgeber, dass er tatsächlich einen ganz normalen Fisch und ein anderer Gast – ohne es zu bemerken – den Kugelfisch verspeist hat. Diese Geschichte zeigt, wie außergewöhnlich Essen schmecken kann, wenn man ihm nur seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Eine achtsame Lebensweise soll uns aus dem Hamsterrad von Stress und Hektik, Informationsflut und Multitasking befreien, raunen die Lebensberater und Lebenskünstler. Achtsamer zu essen gilt sogar als die Methode zum Abnehmen, ohne verzichten und Kalorien zählen zu müssen. Doch Achtsamkeit wird oft nicht richtig verstanden. Sie ist ursprünglich Bestandteil buddhistischer Meditationen. Der Vater der modernen Achtsamkeitspraxis für die westliche Welt ist John Kabat-Zinn. Er entwickelte Ende der 1970er Jahre das medizinische Achtsamkeitstraining MBSR, das von speziell geschulten Psychotherapeuten eingesetzt wird; zum Beispiel zur Behandlung von Depressionen, Schmerzen oder auch Essstörungen und Übergewicht. Im Kern geht es darum zu lernen, im Moment zu versinken anstatt Vergangenem nachzusinnen oder über die ungewisse Zukunft zu grübeln. Bewusstes Atmen ist eine zentrale Übung. Ein zweiter Aspekt ist: Wir fühlen den Augenblick so, wie er ist, ohne ihn zu bewerten. „Diese Dinge zu lernen, gehört zu dem Schwierigsten, das ich je kennengelernt habe“, meint Diplom-Oecotrophologin Maria Pfingsten, die sich als Ernährungstherapeutin intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. „Das Konzept steht im direkten Kontrast zu dem, wie unsere Welt heute ist. Viele Menschen suchen nämlich schnelle Lösungen für ihre Probleme. Bei der Achtsamkeit geht es aber darum, eine neue Geisteshaltung einzunehmen.“ Eine einfache Methode, um Lebensglück und Gelassenheit zu finden oder ein Diätkonzept gegen zu viele Kilos auf den Hüften – genau das ist die Achtsamkeit also nicht. Wer damit ernsthafte Probleme lösen möchte, braucht professionelle Hilfe, viel Übung und Geduld. Das betont auch der MBSR-Verband. Am erfolgversprechendsten seien daher achtwöchige, intensive Kurse, die von qualifizierten Therapeuten geleitet werden. Doch auch ohne solche Kurse kann jeder für sich daran arbeiten, ein bisschen achtsamer zu leben, vorausgesetzt, er erwartet davon keine Rundumerneuerung. Aber gerade das Essen ist ein willkommener Anlass, ein wenig Stress und Hektik aus dem Alltag zu nehmen, wenn man sich ihm komplett und mit Muße hingibt und nicht gleichzeitig mit den Gedanken woanders ist. Ein guter Einstieg ist die Rosinenübung. Dabei widmet man alle Sinne einer einzelnen Rosine. Man betrachtet sie, berührt sie, riecht daran, steckt sie in den Mund, schmeckt sie und schluckt sie bewusst hinunter. Das Prinzip dieser Übung lässt sich auf alle Lebensmittel übertragen und führt oft zu neuen Wahrnehmungen und Geschmackserlebnissen. Ganz konkret kann man sich auch jeden Tag aufs Neue bemühen, vor der Mahlzeit erst einmal einen Gang herunterschalten und sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was auf dem Teller liegt: Wie sieht es aus? Wie riecht es? Besonders den ersten Bissen sollte man ganz konzentriert zu sich nehmen. „So, wie man sich in der Achtsamkeitsmethodik ganz bewusst und ausschließlich nur auf das Atmen konzentriert, kann man es auch mit dem Essen machen“, erklärt Pfingsten. Aber auch dabei müsse man dann das Denken – zum Beispiel über den Fettgehalt oder die Herkunft des Lebensmittels – ausschalten und einfach nur genießen. Pfingsten: „Das ist genau das Gegenteil von dem, wie es bei uns heute in der Regel abläuft.“ Es gibt noch weitere Wege, die zu mehr Achtsamkeit führen. Dazu gehört, gründlich zu kauen und langsam zu essen. Das zu lernen, gelingt zum Beispiel besser, wenn das Besteck nach ein paar Bissen immer wieder mal abgelegt wird. Oder man nimmt sich bewusst vor, beim gemeinsamen Essen der Langsamste zu sein. Sinnvoll ist auch, beim Essen immer wieder tief in sich hineinzuhorchen: Warum esse ich gerade: aus Hunger, Langeweile oder Frust? Wie merke ich eigentlich, dass ich satt bin? Was geht in meinem Kopf vor, während ich esse? „Das Wichtigste ist, dranzubleiben und nicht nach wenigen Versuchen aufzugeben“, sagt Pfingsten. Durch kleine Schritte stellt man zwar nicht seine Geisteshaltung im Sinne des Buddhismus auf den Kopf, lernt aber nach und nach, auf seine wahren Bedürfnisse zu achten.

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