Pirmasens Nicht nur schwarz oder weiß

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Unternehmer in der zweiten Heimat: Der Kinderarzt Tamir Biran hat sich hier eine Existenz aufgebaut, eine Familie gegründet, fünf Arbeitsplätze geschaffen. Doch für ihn gibt es nicht nur diese eine Lebenswelt im sicheren Deutschland, sondern auch den gefährlichen Alltag von Mutter, Bruder und Freunden in Israel. Eine Welt in verschiedenen Farben.

Seine Praxis hat Tamir Biran ungewöhnlich eingerichtet: Ein hölzernes Band, das als besitzbare „Warteschleife“ dient, durchzieht die Praxis für Kinder- und Jugendmedizin im Medicenter, Farben fließen ineinander. Es ist ein durchdachtes Einrichtungskonzept: für Kinder, die in einer mannigfaltigen Welt aufwachsen, in der sich alles verändert und bewegt, Unterschiede verschwimmen, wenn junge Menschen sich mehr über den gemeinsam genutzten Raum wie das Internet definieren als über ihr Herkunftsland. Tamir Biran gehört zu einer Generation, die anders aufwuchs: mit klaren Abgrenzungen. Heute lebt der 48-Jährige über Grenzen hinweg, bewegt sich offen zwischen den Kulturen, zwischen Hebräisch und Deutsch, Judentum und Christentum. Für ihn gibt es nicht nur die eine Seite – „nicht nur schwarz oder weiß“, formuliert er es. Nach Deutschland ist er wegen des Medizinstudiums gekommen. Bis zu seinem 16. Lebensjahr wollte er Architekt werden, erzählt er, doch dann darf er im Krankenwagen mitfahren, absolviert eine Ausbildung, fährt als Ehrenamtlicher mit beim „Roten Davidstern“, dem Pendent zum Roten Kreuz – „ich war infiziert mit dem Medizin-Virus“, sagt er und lacht. Seinen Militärdienst leistet er im Sanitätsbereich, will danach Medizin studieren. Doch in Israel sind Studienplätze rar: Nur vier Fakultäten gibt es, die jeweils etwa 60 Studenten aufnehmen, nach mehrstufigen Testverfahren. Tamir Biran erhält einen Platz in Biologie, macht seinen Bachelor-Abschluss, hofft auf den Quereinstieg zu Medizin, was aber nicht klappt. Er entschließt sich zum Auslandsstudium – in Homburg, weil dort ein Jugendfreund Medizin studiert. Nein, sagt er heute, er habe damals nicht richtig darüber nachgedacht, was es bedeute, als Israeli nach Deutschland zu gehen. Bis er es seiner Mutter erzählte. Und die sei zuerst geschockt gewesen, erinnert er sich. Denn ihre Eltern stammten aus Deutschland, waren 1933 geflohen vor den Nazis. Anders als Verwandte, die im Konzentrationslager starben. Die Mutter habe sich letztlich mit seinem Vorhaben arrangiert, erzählt der Sohn. Aber sie sagte ihm, dass die Großeltern, hätten sie das erlebt, ihm das Studium in jedem anderen Land bezahlt hätten, damit er nur nicht nach Deutschland gehe. Denn Deutschland, erinnert sich der Enkel, sei für die Großeltern zeitlebens Tabuthema gewesen. „Das ist eine Wunde“, sagt er, „und die haben beide Völker“. 1992 kam Tamir Biran nach Deutschland – in jenem Jahr, in dem Rechtsextreme das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen in Brand setzten. Viele, erinnert er sich, hätten ihm abgeraten, zu gehen. Doch der 25-Jährige ging. Mit null Sprachkenntnis und 4000 Mark in der Tasche, seinem Ersparten. Das reichte nicht fürs Studium, das er alleine finanzieren musste. Also suchte er sich Arbeit. Tellerwaschen war die erste, als Küchenhelfer im Schlosshotel Homburg, erzählt er. Als sich sein Deutsch verbesserte, auch dank eines Kurses an der Uni, konnte er nächtliche Sitzwachen im Krankenhaus übernehmen, spendete außerdem regelmäßig Blut. Eigentlich wollte er nach dem Studium nach Israel zurückkehren. Doch es kommt anders. Denn er lernt seine spätere Frau kennen – im Anatomie-Kurs. Sie bekommt später am Klinikum Kaiserslautern eine Stelle, weswegen das Paar zunächst dort hinzieht. Für Tamir Biran, der in Homburg seine Fachausbildung zum Kinderarzt macht – sein Traum, sagt er, seitdem er als Biologiestudent ein Projekt mit Kindern geleitet hat – stellt sich jedoch bald die Frage: weiterarbeiten in der Klinik mit Nachtschichten oder familienfreundlicher selbstständig machen? Denn inzwischen sind zwei der drei Kinder da. Er übernimmt 2007 eine Praxis in der Pirmasenser Löwenbrunnenstraße, bis er kürzlich umzieht ins neue Medicenter; dort haben er und seine fünf Mitarbeiter mit 210 Quadratmetern mehr als doppelt so viel Platz wie vorher. Den Schritt in die Selbstständigkeit hat er nie bereut. „Ich fühle mich wohl hier.“ Hier hat er Fuß gefasst, ist privat wie beruflich integriert, engagiert sich mit Kollegen auch für sozial benachteiligte Kinder. Wollte er nie zurück nach Israel? Thema sei es gewesen, sagt er. Aber allein für die Kinder sei Deutschland sicherer als Israel, wo Terror an der Tagesordnung ist, wo die sieben Millionen Einwohner deshalb keine Nachrichten verpassen, an allem Anteil nehmen – anders als im größeren Deutschland, wo vieles in der Anonymität bleibt. Die Verbindung zur ersten Heimat hält Tamir Biran, nicht nur durch Besuche. Seine Kinder sind zweisprachig aufgewachsen, lernen die jüdische Religion des Vaters und die evangelische der Mutter kennen, sollen sich später frei entscheiden können. Auch seine Frau hat Hebräisch und sein Land kennengelernt. Seine Familie und seine Freunde akzeptierten sie und sein Leben in Deutschland, sagt er; lediglich ein Freund wolle ihn überall treffen, nur hier nicht – eine offene Wunde. Dass heute auch Israels Politik kritisch begleitet wird, erlebt Tamir Biran mit einem Zwiespalt. Kritiklosigkeit als Form eines schlechten Gewissens dürfe nicht sein, sagt er, aber auch kein einseitiges Mitleid mit Palästinensern, das die Hamas zum Teil instrumentalisiere. Eben nicht nur Schwarz oder nur Weiß. In seine Praxis kommen seit dem Jahr 2014 immer mehr Flüchtlinge, darunter Araber. Er hat damit kein Problem, spricht sogar etwas Arabisch. Das sei wie im Deutschkurs an der Universität, erinnert er sich. Auch damals saßen sie alle friedlich zusammen, Politik blieb außen vor. „Wenn man außerhalb der Konflikte steht“, sagt Biran, „sind wir alle nur Menschen“. (tre) Die Serie In unserer Serie stellen wir Menschen mit ausländischen Wurzeln vor, die sich hier eine Existenz aufgebaut und Arbeitsplätze geschaffen haben.

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