Speyer „Nicht jeder hält lange durch“

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Alleinerziehende leben fünfmal häufiger von staatlichen Leistungen als Paarfamilien. Am Mittwoch will die Gleichstellungsstelle der Stadt mit Sozialrechtlerin Anne Lenze, Fachleuten und Betroffenen darüber diskutieren. Ellen Korelus-Bruder hat Lenze zur Situation befragt.

Frau Lenze, was setzt Alleinerziehende mehr unter Druck: fehlendes Geld oder der fehlende Elternteil?

Das ist schwer zu entscheiden. Alleinerziehende und ihre Kinder leiden gleichermaßen unter emotionaler und finanzieller Belastung. Häufig kämpfen Eltern um ihre Kinder und um das Geld. Kinder leiden oft unter Stress und Zeitmangel ihrer voll berufstätigen Mütter. Halten Sie die gesellschaftliche und finanzielle Stellung Alleinerziehender für gerecht? Nein, überhaupt nicht. Nach einer Trennung sind sie spätestens nach dem dritten Geburtstag ihrer Kinder für alle Kosten alleine verantwortlich. Ab diesem Zeitpunkt wird von ihnen Vollzeit-Berufstätigkeit verlangt. Wer keine ausreichende Kinderbetreuung findet oder die Mehrfachbelastung nicht aushält, landet bei Hartz IV. Was hat zu der Schieflage geführt und wohin kann sie führen? Neue Gesetze haben die Lage hinsichtlich Unterhalt und Steuerrecht verschärft. Alleinerziehende erhalten de facto weniger Geld beziehungsweise können weniger steuerlich absetzen. Konkret führt das zu mehr Kinderarmut. Werden Arme oder Geringverdiener ausreichend bei der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder unterstützt? Gut ist, dass Alleinerziehende bei der Vergabe von Kindertagesstättenplätzen bevorzugt werden. Leider ist die Betreuung längst nicht überall flexibel. Auch die Mittagessen-Qualität gehört auf den Prüfstand. Können erweiterte Öffnungszeiten und Krippenplätze in Kindertagesstätten helfen? Grundsätzlich ist das hilfreich, aber nur dann, wenn diese Randzeitenbetreuung verlässlich ist und in konstanten Gruppen stattfindet. Ist es für ein Elternteil unter den gegebenen Voraussetzungen überhaupt möglich, für die notwendige Förderung der Kinder zu sorgen? Alleinerziehende mobilisieren alle Kräfte. Sie verzichten zugunsten ihrer Kinder auf Freizeit, Karriere und finanzielle Mittel. Diesen teilweise übermenschliche Einsatz kann nicht jeder lange durchhalten. Haben Mütter und kinderlose Frauen gleiche Chancen? Mütter werden immer benachteiligt. Deshalb fordere ich statt der nicht mehr ganz zeitgemäßen Frauenförderung eine Mütterförderung. Sind Vorurteile gegen alleinerziehende Elternteile überwunden? Keinesfalls. Mit diesem Problem kämpfen sie nach wie vor. Vor allem in Schulen, bei Jugendämtern und Arbeitgebern müssen sie sich häufig rechtfertigen. Für Kinder gehört die Tatsache, bei einem Elternteil aufzuwachsen, inzwischen zur Normalität. Haben sich die Probleme verschärft statt verringert? Absolut. Finanziell auf jeden Fall. Es gibt weit mehr arme Alleinerziehende als noch vor zehn Jahren. 40 Prozent von ihnen müssen mit Arbeitslosengeld II auskommen. Für viele führt der Weg von da aus direkt in die Altersarmut. Was können Gesetzgeber und Kommunen tun? Vor allem die Jobcenter sind gefordert. Sie sollten sinnvolle Qualifizierung und Ausbildung von Müttern stärker fördern. Aber nicht in Schichtdienst-Berufen wie Altenpflege. Der Gesetzgeber muss reagieren, damit Alleinerziehenden mehr Geld zum Leben bleibt. Es besteht wirklich dringender Handlungsbedarf. Was sollten Betroffene tun? Zusammenschlüsse in Selbsthilfegruppen sind wichtig, aber auch die Vertretung ihrer Interessen beispielsweise bei Kommunalpolitikern. Zur Person Anne Lenze Professor Dr. Anne Lenze (55) ist Rechtswissenschaftlerin für Familien-, Jugendhilfe- und Sozialrecht im Fachbereich Sozialpädagogik an der Hochschule Darmstadt. Sie berät den Ausschuss für Arbeit und Soziales im Bundestag. (kya)

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