Speyer Malen gegen die Hölle

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Mit Buntstiften und Wasserfarben malt sich Karina jeden Tag das Grauen von der Seele. Ihre Kindheit hat die Fünfjährige in Syrien zurückgelassen. Immer wieder kehren Bilder aus der Hölle zurück, vor der sie zwei Jahre lang mit ihrer Familie geflohen ist.

Ein paar Bleistiftstriche, hier und da eine aufgeklebte Feder zwischen reichlich Rot: „Das ist das Blut vom toten Vogel“, erklärt Karina in gutem Deutsch ihr jüngstes Bild. „Karin malt jeden Tag mindestens zwei oder drei Stunden“, sagt Mutter Fatima (32). „Ich bin froh, dass sie ihren eigenen Weg gefunden hat, mit den schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden. Nur beim Malen ist Karin ein glückliches Kind.“ Bis auf elf Kilogramm abgemagert, nicht fähig zu reden oder zu essen, Panikattacken bei jedem ungewohnten Geräusch, hilflos, das blanke Entsetzen in den Augen: So beschreibt die Mutter den Zustand ihrer kleinen Tochter bei der Ankunft in Speyer, wo sie psychologisch betreut werde. In Aleppo hätten sie alles gehabt, was ein gutes Leben ausmache, erzählt Vater Reiza (36) von der kleinen Fabrik des Großvaters, von der intakten Familie, Sicherheit und Freunden in der Heimat. Mit Kriegsausbruch und seiner damit verbundenen drohenden Zwangsrekrutierung durch die Terror-Miliz habe er keinen anderen Ausweg als die Flucht gesehen, sagt Reiza. Hinzu sei die Angst um die Söhne Zacharia (11) und Scherko (10) gekommen. „Ich wurde überall gesucht und meine Kinder hätten auch in den Krieg ziehen müssen“, beschreibt er die konkrete Bedrohung der kurdischen Familie. Nur mit dem Nötigsten ausgestattet hätten sie sich auf den Weg in Richtung Türkei gemacht, berichtet der Familienvater vom unabwendbaren Abschied von zu Hause. „Unser Ziel war von Anfang an Deutschland.“ Als ihr Bus etwa zehn Kilometer vor der türkischen Grenze bombardiert worden sei, hätten sie die letzten 15 Kilometer zu Fuß fortgesetzt, berichtet Fatima vom Entkommen in letzter Minute. Damals war Karina gerade drei Jahre alt. Gefolgt seien Verschleppung, Verhaftung und Gefängnis in Bulgarien. „Meine Kinder und ich waren mit 30 weiteren Personen in einem kleinen fensterlosen Raum ohne Betten, Toiletten, Essen und Wasser eingesperrt“, erinnert sich Fatima an heiße Tage und kalte Nächte auf dem nackten Steinboden, an Gewalt, Angst und Dreck. Nach der Freilassung hätten sie auf der Straße und in Verstecken gelebt, bis Verwandte in Finnland ihnen Flugtickets nach Belgien finanziert hätten, erzählt Reiza. Der Fahrer, der sie nach Deutschland bringen sollte, habe ihnen das Wenige genommen, das sie von zu Hause dabei hatten. „Wir besaßen nichts mehr außer den Kleidern, die wir trugen, aber wir waren am Ziel“, beschreibt er die Erleichterung bei der Ankunft in dem Land, in dem die Eltern ihre einzige Hoffnung sehen. „Für ein Leben in Freiheit und Sicherheit und gute Ausbildung unserer Kinder wollen wir alles tun“, betont Reiza, der auf baldige staatliche Anerkennung und damit die Möglichkeit, zu arbeiten, hofft.Die Söhne haben sich eingelebt in der neuen Heimat. Sie haben Freunde gefunden, gehen zur Schule und spielen Fußball im Verein. „Hier ist es richtig für uns“, ist Scherko überzeugt. Sorgen mache ihm die kleine Schwester, sagt Zacharia. „Sie isst noch immer viel zu wenig, macht ins Bett und schreit nachts oft.“ Der von Speyerern finanzierte Malkurs im Kulturhaus „Pablo“ ist Karinas ganzes Glück. Da schöpft die Fünfjährige Vertrauen, fühlt sich unbelastet. Im Kindergarten sei sie immer alleine und ziehe am liebsten Perlen auf, erzählt sie. Warum kein Kind mit ihr spielen will, weiß sie nicht. „Am meisten wünsche ich mir eine Freundin oder einen Freund“, sagt sie. Trost schenkt ihr die Puppe, die ihr ein Speyerer Mädchen geschenkt hat, das neue Malbuch und leere Papierrollen für viele neue Bilder einer verlorenen Kindheit. MEHR ZUM THEMA

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