Landau Landau: Pirmin Spiegel erhält Hans-Rosenthal-Ehrenpreis

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Wenn es um Hilfe für die Ausgegrenzten geht, nimmt Pirmin Spiegel kein Blatt vor den Mund, auch auf die Gefahr hin, anzuecken. Der Leiter des katholischen Hilfswerks Misereor ist ein unermüdlicher Streiter für die Rechte der Armen. Dafür hat er am Samstag in Landau den Hans-Rosenthal-Ehrenpreis bekommen. Sein seelisches Rüstzeug indes verdankt er – Großfischlingen.

Für einen Augenblick herrscht Stille in der Zentrale des katholischen Bischöflichen Hilfswerks Misereor in Aachen. Gerade ist einem Mitarbeiter, der Bezug nehmen wollte auf die südpfälzische Herkunft seines Chefs, „Kleinfischlingen“ rausgerutscht. Damit ist ein Punkt erreicht, an dem selbst Pirmin Spiegel, ein vor Lebensfreude geradezu sprühender Mensch, selbige nicht mehr ganz ungezwungen ausstrahlt. Bei aller christlicher Nächstenliebe, die Beziehung zweier Nachbarorte in der Pfalz sind stets speziell, nicht wahr, Herr Spiegel? Eben noch ging es um globale Probleme, mit einem Mal schrumpfen sie auf einen Namen. Spiegel lacht. Es ist natürlich rein spekulativ. Womöglich gar vermessen. Aber vermutlich hätten sich Jesus Christus und Pirmin Spiegel gut verstanden. Hier der Zimmermannsspross aus Nazareth, da der Bauernsohn aus Großfischlingen. Zwei, die vielfach dieselben Einstellungen teilen. In ihrer Hinwendung zu den Armen und Ausgegrenzten. In ihrem Aufbegehren gegen eine als ungerecht empfundene Ordnung von Welt und Gesellschaft. In ihrer Art, sich auf andere einzulassen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Und in ihrem Mut, unbequem zu sein und Missstände anzuprangern. „Die Kirche ist das Haus der Armen. Wenn sie darin keinen Platz haben, ist das nicht die Kirche Jesu“, sagt Spiegel etwa und macht damit deutlich, dass ihn die Befreiungstheologie Südamerikas inspiriert, ja durchdrungen hat. „Ich bin Mitte der 80er-Jahre, gegen Ende der Militärdiktatur, in Brasilien gewesen, ich habe die Rolle der Kirche dort erlebt.“ Die Kirchenhierarchie stand oft auf Seiten der Obrigkeit, hatte wenig Blick für die Sorgen der Menschen. „Kirche aber darf es nicht um sich selbst gehen“, ist Spiegel überzeugt. Nein, wer sich in der Nachfolge Jesu sehe, müsse die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten: aus der der Ärmsten, der Ausgegrenzten, der Chancenlosen, „derjenigen, die immer auf der Verliererseite stehen“. Es gibt da ein Bild, das dem 59-Jährigen nicht aus dem Kopf gehen will: ein kleines Mädchen, verdreckt, auf einer Müllkippe, daneben Schweine, über sich Vögel, die nach Beute gieren. „Da habe ich mir gesagt: Ich will das ändern, ich muss etwas tun.“ Ein halbjähriger Aufenthalt im Land am Zuckerhut war der Wendepunkt. Zuvor hatte alles seinen Gang genommen, geordnet, gemächlich, geschätzt. Eine Familie mit einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, zwei Kühe, einige Rebflächen. Das Leben im Dorf, fußend auf gegenseitigem Respekt, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, „wo man als Teil der Gemeinschaft was bewegen konnte“, erinnert sich Spiegel. „Das hat mich geprägt.“ Das Studium der Agrarwissenschaft in Gießen, um vielleicht später mal in die elterlichen Fußstapfen zu treten. Dann eine erste Politisierung. Die Terror-Taten der RAF lösten Debatten aus über die Ordnung von Staat und Welt, über Systemwechsel, über Gerechtigkeit. „Darauf konnte mir die Agrarwissenschaft keine Antworten geben“, sinniert Spiegel. Er ging erstmals nach Brasilien, kam dort mit der Befreiungstheologie in Berührung, studierte hernach Theologie und Philosophie in Frankfurt. Priesterweihe 1986, dann für vier Jahre Pfarrer in Kaiserslautern und Kaplan für die Christliche Arbeiterjugend im Bistum Speyer. 1990 dann Aussendung zur Mission nach Brasilien, in den Bundesstaat Maranhão im Nordosten, abgehängt selbst für brasilianische Verhältnisse. Dort ein entbehrungsreiches Leben für die Armen, unter Armen und mit den Armen. „Mission ist kein Dienst von oben herab“, sagt Spiegel. Nachhaltig helfen könne nur, wer die Menschen und ihre Probleme kennt, wer ihre Potenziale stärkt, wer mit anpackt. Kein Popanz aus der Ferne, sondern Tatkraft vor Ort. Verordnete Hilfe bringe nichts, „die gibt den Menschen nicht ihre Würde zurück“. Würde, sie ist für ihn zentral. In Würde leben können, selbst unter schwierigen Bedingungen, dazu wollte er die Menschen als Missionar befähigen. Und er will es noch heute als Leiter von Misereor. Als Konsequenz aus seiner Überzeugung gründete Spiegel 1995 eine landwirtschaftliche Schule in Lima Campos in Maranhão, in der Familien das Know-how lernen, sich selbst zu versorgen. Ein Erfolgsmodell: Mittlerweile gibt es annähernd 20 solche Einrichtungen in Brasilien. „Kirche darf kein Verwaltungsapparat werden, sie ist kein geschlossener Raum, sondern besteht aus Beziehungen“, sagt der Pfälzer. „Sie muss einen Beitrag leisten, das Leben der Menschen zu verbessern.“ Nicht immer liegt Spiegel, 2012 von Papst Benedikt XVI. zum Monsignore ernannt, mit seinen Ansichten auf Linie der Amtskirche, gibt er offen zu. So habe sich Benedikt brillant mit der Vereinbarbarkeit von Glaube und Vernunft auseinandergesetzt. Brasilien habe ihn selbst aber mit einer anderen Fragestellung konfrontiert – mit der Vereinbarkeit von Glaube und Hunger. Mit der Frage: Wie kann Gott das zulassen? „Meine Antwort darauf ist: Gott leidet selbst in Gestalt der Ärmsten unsäglich mit. Er hat uns Menschen die Verantwortung gegeben. Die Frage muss also heißen: Wie können wir Menschen das zulassen?“ Manchmal zweifelt Spiegel auch, verzweifelt fast an den Notlagen weltweit. Überall helfen müsste Misereor, dessen Leitung er 2012 übernahm, nachdem er zwischenzeitlich Pfarrer in Blieskastel und erneut in Brasilien war. 340 Mitarbeiter, 3000 Partnerorganisationen, ein Budget von annähernd 200 Millionen Euro. Afrika, Indien, Südostasien, Lateinamerika, Naher Osten. Kein Ende in Sicht. Und doch: „Ich habe diese Hoffnung in mir, dass wir etwas zum Besseren wenden. Ohne sie könnte ich den Job nicht mehr machen.“

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