Panorama Ich liebe mich

Modepüppchen und Muckibudengänger machen’s ebenso wie Angela Merkel in der Umkleide der Nationalelf und der US-Präsident auf der Trauerfeier für Nelson Mandela. Selfies sind in, Selfies bleiben in. Weil wir uns immer toller finden.

Der Narziss beugt sich über eine Wasserquelle. Der schöne Sohn des Flussgottes Kephissos und der Leiriope will sein Spiegelbild betrachten. Und dabei verliebt er sich in sich selbst. Er findet sein Spiegelbild so toll, dass er es umarmen möchte. Das Schicksal in der alten griechischen Sage will es so: Der Jüngling plumpst ins Wasser. Und ertrinkt. Tragisch. Das Bedürfnis, sich selbst zu sehen, gibt’s schon immer. Heute ist es wohl ausgeprägter denn je. Wir schauen nicht nur mit Vorliebe in jeden Spiegel, sondern fotografieren uns auch gerne selbst. Überall. Selfies sind keine Erfindung der Generation Y. Auch unsere Eltern haben sich schon vor Jahren selbst geknipst. Gerne erinnern wir uns an die traditionellen Dia-Abende im heimischen Wohnzimmer. Mama und Papa haben mit Freudentränen in den Augen ihre leicht unscharfen Andenken an den Urlaub vorgeführt. Entstanden waren die Fotos vor dem Schloss Neuschwanstein, den Pyramiden oder hoch oben auf dem Eiffelturm noch mit dem nostalgischen Selbstauslöser. Für alle unter 16-Jährigen: Einst war das eine Funktion bei Kameras, mit der man einstellen konnte, dass diese erst nach beispielsweise zehn Sekunden knipsten. So hatte man nach dem Drücken des Auslösers noch genügend Zeit, um sich vor dem Apparat in Szene zu setzen. Heute geht’s ohne. Die Technik wird immer besser. Jedes moderne Smartphone hat inzwischen nicht nur hinten, sondern auch vorne eine Kamera. Dank der Frontlinse können wir uns beim Selbstknipsen auf dem Display betrachten und gleich noch überprüfen, ob die Frisur auch richtig sitzt. Wie schade, dass Rembrandt nicht rund 400 Jahre später geboren wurde. Der Meister wäre begeistert gewesen von dem ganzen technischen Schnickschnack. Also musste er sich mit dem zufriedengeben, was er eben so hatte. Pinsel, Palette, Ölfarben. Damit fertigte er seine Selfies an, schnöde „Selbstporträts“ genannt. Da reichte es nicht aus, irgendein Knöpfchen zu drücken. Man musste malerisch was draufhaben. So wie Parmigianino. 1523/24, im Alter von 21 Jahren, malt er sein „Selbstporträt im konvexen Spiegel“. Er ist etwas blass, hat einen Mittelscheitel, trägt ein weißes Hemd und streckt seine Hand von sich weg, wie es die jungen Leute heute auch tun. In seiner Hand hält er, logisch, kein iPhone. Es ist wohl ein Rasierspiegel. Dieser Typ Mensch begegnet uns auch heute bei Facebook, Instagram und Co.: junger Mann, der sehr von sich selbst überzeugt ist. Ein kleiner Narziss. Wühlen wir in der Kunstgeschichte, finden wir weitere Beispiele für Selfies in Öl. Da gibt’s zum Beispiel van Gogh mit einem frisch abgesäbelten Ohr oder einen verzweifelten Gustave Courbet. Auch Albrecht Dürer hat sich gerne selbst porträtiert: Jesusgleich hält sich der Maler um 1500 fest. Was anderes ist es als das, was Möchtegern-Diven knapp fünf Jahrhunderte später machen? Und schon wieder Rembrandt. Der Niederländer wusste schon damals, was später mal total in sein wird: das Duckface, das Knutschgesicht. Mit Mut zur Hässlichkeit, mit großen Augen, verewigt er sich um das Jahr 1630. Die Radierung, heute im Rijksmuseum in Amsterdam, unterscheidet sich höchstens in Machart und Farbigkeit von jenen Werken, die soziale Netzwerke überschwemmen. Warum wir uns selbst fotografieren? Weil wir alle kleine Narzisse sind. Als Selfie-Macher stellen wir uns in den Mittelpunkt. Wir zeigen allen, wie toll unser Leben ist. Wir trinken mittags um drei eine Vanilla Latte Venti aus einem trendigen To-go-Becher mit grünem Meerjungfrauenlogo drauf, während alle anderen noch im Büro auf die Wanduhr starren (#starbucks). Wir können’s uns leisten, nach Abu Dhabi zu jetten, um vor dem Riesenhotel mit den vergoldeten Wasserhähnen und dem Namen, den wir uns einfach nicht merken können, zu posieren (#luxus). Und schaut doch alle mal, wie trainiert unsere Bodys sind (#sixpack). Und was meint ihr da draußen: Sollen wir am Samstag mit diesem (gefakten) Louis-Vuitton-Speedy-Bag um die Häuser ziehen oder doch lieber mit dieser (gefakten) Gucci-Clutch (#fashion)? Das Selfie dokumentiert, das Selfie ist reine Selbstdarstellung. Hier, Aufmerksamkeit, ich. Arm raus, Bauch rein, grinsen, klick. Überall. Weil’s so einfach ist. Und je mehr „Likes“ wir für unsere Selbstbildnisse bekommen, desto besser fühlen wir uns. Das Wort „Selfie“ tauchte 2002 erstmals in einem australischen Internetforum auf. 2013 wurde es vom renommierten Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres gewählt. So richtig bekannt wurde das Selbstporträt 2.0 unter anderem durch US-Präsidentengattin Michelle Obama, die immer mal wieder mit neuem Haarschnitt vor dem Handy posierte. Ihr Mann Barack hingegen inszenierte sich da weniger glamourös: Während der Trauerfeier für Nelson Mandela Ende 2013 schoss er ein Selfie mit dem britischen Premierminister David Cameron und der dänischen Premierministerin Helle Thorning Schmidt. In der Oscar-Nacht wenige Wochen später verhalfen Stars rund um die Moderatorin Ellen DeGeneres mit einem Klick dem Selfie zu noch mehr Bekanntheit. Bei Twitter wurde das Foto von Brad Pitt, Angelina Jolie, Julia Roberts und Kollegen ein richtiger Blockbuster. Seitdem gibt’s im Netz noch mehr Selbstporträts. Seit einiger Zeit ist es sehr hip, auf Hilfsmittel zurückzugreifen. Die Industrie hat sich extra für uns Zubehör ausgedacht, etwa den Selfie-Stick. Das ist eine Art schwebendes Stativ, mit dem wir uns selbst fotografieren können. Wir schnallen unser Smartphone ans obere Ende, fahren die Teleskopstange aus, posieren und betätigen dann mit unserem Daumen den Auslöser. Der eingebaute Auslöser ist über Bluetooth mit dem Smartphone verbunden. Klick. Und noch mal. Und dann noch mal. Weltweit werden die Stangen nicht nur gerne vor Tourismus-Magneten ausgefahren. Besonders beliebt sind die Dinger im Museum. In den USA haben nun viele Museen die Selfie-Sticks verboten – aus Angst, die ganzen Picassos, Pollocks und Warhols könnten beschädigt werden. Verzichten sollte man auf die Stangen aber auch in Südkorea. Die Behörden dort finden die Funksignale gar nicht toll. Wer beim Knipsen mit einem verlängerten Arm in der Öffentlichkeit erwischt wird, landet ohne Umweg gleich im Knast. Übrigens gibt’s auch Motivtrends. 2014 war es vor allem mega angesagt, ein Duckface aufzusetzen. Schmollmund und Glubschaugen sind mittlerweile jedoch nicht mehr so modisch. Wer up to date sein will, muss sich mimisch nun etwas mehr Mühe geben, so, wie es einst – und da ist er wieder – Rembrandt machte. Gespielte Überraschung ist der Hit. Und das geht so: Mund leicht öffnen, damit man die gebleachte Kauleiste sehen kann. Das Kinn gezielt mit der Hand verdecken und – huch! – Augen aufreißen. Fertig ist das „Surprised-Face“-Selfie, das sich zurzeit rasant im Netz verbreitet. Das soll lustig sein – und das Gesicht nicht ganz so füllig wirken lassen. Wer eher auf Natürlichkeit steht, der zeigt sich in den sozialen Netzwerken eben natürlich: im Adamskostüm. Hübsch trainierte Jungs schießen „Cock-in-a-sock“-Selfies, um auf die Hodenkrebsforschung aufmerksam zu machen. Sie präsentieren ihre gestählten Tattoo-Körper wie einst die Red Hot Chili Peppers – nackt, nur mit einer Socke an entscheidender Stelle. „Das ist elektronische Masturbation“, sagt unser schwarz-weißer Modepapst Karl Lagerfeld über den Selfie-Wahn. Dabei ist das doch nur eine entschärfte Variante jener Dr.-Sommer-Selbstauslöser-Nacktaufnahmen, wegen derer wir uns als Teenies jeden Mittwoch brav die „Bravo“ gekauft haben. Mittlerweile gibt’s die Nackigen in dem Heftchen so schon gar nicht mehr. Macht auch nix. Im Jahr 2015 kriegen wir ja ohnehin alles für umme. Mit Schmollmund, Stange oder Socke.

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