Rheinpfalz Frieden für das Gehör

Der antike Held Odysseus hat den Berliner Apotheker Maximilian Negwer vor über 100 Jahren zu einer Erfindung inspiriert: Mit seinen Ohropax-Stöpseln wollte Negwer die Menschen vor dem Lärm und dem Sirenengesang der Moderne schützen. Der Erfolg des Familienunternehmens beruht auch auf raffinierten Marketing-Strategien. Heute stellt die Firma jährlich etwa 30 Millionen Ohrstöpsel der Classic-Variante her. Von Stephan M. Müller

Diesen Geräuschteppich feierten die einen als eine Symphonie der Moderne. Italienische Futuristen zum Beispiel bauten neue Musikinstrumente, mit denen sie den Lärm von Industrie und Maschinen in eigens komponierten Lärmsymphonien glorifizierten. Andere sahen in dieser Allgegenwärtigkeit des Lärms eine Gesundheitsgefährdung. Der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Theodor Lessing zum Beispiel sprach von „Lärmverseuchung“ und geißelte jede Art von Geräusch als „hygienisches Delikt“, das die Menschen krankmache und als Gesetzesverstoß geahndet werden solle. Zunehmender und scheinbar allgegenwärtiger Lärm war im anbrechenden 20. Jahrhundert eine Quelle von Frustration und Inspiration. 1908 gründete Theodor Lessing seinen Antilärm-Verein. Dass der Berliner Apotheker Maximilian Negwer zur gleichen Zeit seine „Geräuschschützer“ – so die spätere Bezeichnung auf den Reklametafeln – erfand, war kein Zufall. Neben dem Wunsch nach totaler Ruhe verband die Herren Lessing und Negwer auch, dass sie es verstanden, ihre guten Ideen zu Geld zu machen. Antilärmverein-Mitglieder zahlten einen Jahresbeitrag von sechs Mark; die Packung Ohropax – mit sechs Kugeln – kostete schon damals eine Goldmark, inflationsbereinigt wären das heute etwa 5,65 Euro. Die Rezeptur der Ohropax-Stöpsel hat sich seit ihrer Erfindung und Patentanmeldung 1907 kaum verändert und ist so einfach wie genial: Baumwollwatte wird, in einer Mischung aus Vaseline und Paraffinwachsen getränkt, zu Kugeln verarbeitet. Zur besseren Handhabung werden die Wachskugeln mit Watte überzogen. Sie wurden zuerst in schmucken, auffälligen gelben Blechdöschen gebettet, heute sind sie in Kunststoffbehälter verpackt. Maximilian Negwers Geistesblitz war inspiriert von einem Helden der Antike: Odysseus, einer der großen Helden Homers, flüsterte Negwer die Eingebung gewissermaßen ins Ohr. In dem griechischen Epos schützt Odysseus die Mannschaft seines Schiffes vor den Sirenen, die mit ihrem betörenden Gesang Seefahrer auf die Klippen und damit in den Tod locken, indem er seinen Gefährten Bienenwachs in die Ohren stopft. Negwers Enkel, Hubertus Negwer, der heute noch in der Potsdamer Jägervorstadt im Haus des Ohropax-Erfinders wohnt, ist überzeugt: „Der Name ist die eigentliche Erfindung.“ Mittel, die man sich als Lärmschutz in die Ohren stopft, haben heute viele Hersteller im Angebot. Aber keiner fand so einen schönen, eingängigen Namen. Der Name „Ohropax“ ist zusammengesetzt aus den Wörtern Ohr und „Pax“ – lateinisch für Frieden. Obwohl der 1872 geborene Apotheker Negwer vom zivilisatorischen Nutzen seiner Entwicklung überzeugt war, lief der Absatz der Stöpsel anfangs schleppend. Erst der Erste Weltkriegs brachte Schwung in die Sache. 1916 bestellte das Militär zunächst 10.000 Ohropax-Dosen. Damit öffnete sich ein riesiger Absatzmarkt. Die deutsche Armee orderte Negwers Produkt zum Schutz ihrer Soldaten vor dem Kriegslärm oder, wie es im Jargon der Epoche hieß, „gegen die Schallwirkung des Kanonendonners“. Die Verkaufszahlen schossen rasant in die Höhe und Ohropax – das an die Soldaten in einer handlichen wiederverschließbaren „Armeedose“ ausgeteilt wurde – etablierte sich dadurch als Massenware. Der Boom hielt in Friedenszeiten an: 1928 wurde der Lärmschutz aus Wachs bereits in 42 Länder exportiert. Ohropax ist eine Erfolgsstory und von Beginn an eine Geschichte enorm cleveren Marketings – ein Begriff, den der alte Apotheker noch nicht kannte, aber mit Leben füllte. Nicht nur ging der Name Ohropax ins Ohr, auch die Produktwerbung ging neue Wege. Für die Weltkriegssoldaten gab es eine Sonderausgabe von Ohropax, die als „dankbare Liebesgabe“ für den Frontsoldaten beworben wurde. Ein überdimensionales Ohrmodell wurde in den 1920er Jahren als Dekoration zum Blickfang in den Apotheken und sorgte für Aufmerksamkeit bei der Laufkundschaft. Durch aggressive Anzeigekampagnen in Zeitungen und Magazinen etablierte sich Ohropax als die bekannteste Marke für Gehörschutz. Eine Werbetafel um 1928 tönte: „Hast Du Ohropax im Ohr, kommt Dir Lärm wie Stille vor.“ Auch wusste man schon geschickt Prominente für die Werbezwecke einzusetzen, zum Beispiel Franz Kafka, den nach seinem Tod so berühmten Schriftsteller. Kafka war sehr lärmempfindlich und erwähnte die Geräuschschützer 1915 und 1922 in Briefen an seine Verlobte Felice: „Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ging es gar nicht.“ Glaubt man der Firmenlegende, gehörte später auch Literatur-Nobelpreisträger Günther Grass zu den Ohropax-Kunden. Im Januar 1943 stirbt Maximilian Negwer in Potsdam. Zwischenzeitlich übernimmt seine Frau Erna mit Erfolg die Geschäfte. Trotzdem muss die Produktion bei Kriegsende wegen Rohstoffknappheit eingestellt werden – aber nur vorübergehend. Die seit 1924 in Potsdam ansässige Firma bekommt dann allerdings die Folgen der Teilung Deutschlands zu spüren. Nach der Verstaatlichung übernimmt in der DDR ein Volkseigener Betrieb die Ohropax-Produktion. Das Familienunternehmen siedelt 1958 in den Westen über und startet in Bad Homburg unter Leitung des Gründersohnes Wolfgang Negwer durch. 1991 bezieht die Ohropax GmbH ein neues Betriebsgebäude in Wehrheim im Taunus. Moderne Produktions- und Verpackungsanlagen ersetzen die bisherige Handarbeit. Auch im 21. Jahrhundert sind Negwers Geräuschdämmer laut Firmenangaben immer noch Marktführer und der Name „Ohropax“ hat sich schon lange zum Gattungsnamen für alle lärmdämpfenden Ohrstöpsel entwickelt. Michael Negwer, ein Enkel des Firmengründers, leitet die Firma heute im hessischen Wehrheim. Zwölf Stunden täglich rattern die Maschinen in hochmodernen Produktionsstraßen, jährlich werden allein 30 Millionen Ohropax Classic hergestellt. Allein hierzulande macht die Ohropax GmbH nach eigenen Angaben jährlich 3,8 Millionen Euro Umsatz. Die Exportquote liege bei 20 Prozent, Hauptabnehmer sind die Niederlande, Schweiz und Österreich. Vertrieben werden die Geräuschausbremser auch in Asien, Afrika und Amerika. Die wissenschaftlich nachgewiesene Schalldämmung von Ohropax liegt bei etwa 27 Dezibel. Weil Stillstand auch für Firmen in der Lärmbekämpfung Rückschritt bedeutet, erfindet die Ohrstöpsel-Firma sich ständig neu: Ohropax Windwolle schützt Empfindliche vor kaltem Wind und Zugluft. Ohropax Badewolle verhindert, dass beim Baden und Schwimmen Wasser in den Gehörgang eindringt. Dazu kommen neue Materialien: imprägnierte Schafwolle, Schaumstoff und hautfreundliches Silikon. Theodor Lessings 1908 ins Leben gerufener Antilärm-Verein und seine 1000 Mitglieder schafften es trotz ellenlanger Kampfschriften nicht, die verlorene Stille zurückzuerobern – auch wenn sie wortgewaltig „all dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben“ geißelten. Lessings Lärmkampagne überlebte nur drei Jahre. Maximilian Negwers Ohropax dagegen braucht noch heute jeder irgendwann mal. Der Lärm ist nicht unbedingt weniger geworden. Die Geplagten aller Länder – mit Schallwellen malträtiert von Straßenfest- und Kneipenbesuchern, von Männern am viel leiser gewordenen Presslufthammer, von Anwohnern, Hauptverkehrsstraßen und von schnarchenden Ehemännern –, all diese Geplagten sind dem Ohropax-Erfinder Maximilian Negwer auch heute noch Nacht für Nacht dankbar.

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