Sport Diese Wade muss halten

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Dass Jérôme Boateng gestern im Training normal mitmischte, beruhigt. Der Verteidiger ist der Chef im Ring.

Kleider machen Leute, sagt der Volksmund. Wenn dieser Spruch in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft auf einen Spieler zutrifft, dann auf Jérôme Boateng. Der Innenverteidiger ist sich auf dem Platz für nichts zu schade, sieht abseits des Rasens aber immer wie aus dem Ei gepellt aus. Boateng ist die deutsche Antwort auf Englands Stilikone David Beckham. Der 27-Jährige legt Wert auf sein Äußeres und soll zu Hause mehr Schuhe haben als das Jahr Tage hat. Pardon, er trägt ja keine Schuhe, sondern Sneakers. Das sind die Treter, die früher mal Turnschuhe hießen. Boateng hat sich schon als Kind nicht einfach so von seiner Mutter aus dem Haus schicken lassen. Seine Brille fand er so doof, dass er sie vorm In-die-Schule-gehen im Briefkasten versteckte. Bis seine Mutter die Sache mitbekommen hat. Und dann gab’s Ärger. Es ist eine nette Anekdote. Sie ist wichtig, um zu verstehen, warum einer, der bei den Bayern sehr gutes Geld verdient, nun auch eine eigene Brillen-Kollektion auf den Markt gebracht hat. Sechs Modelle sind beim Onlinehandel edel-optics zu kriegen. Und die hat Jérôme Boateng höchstpersönlich entworfen. Benannt hat er sie nach Städten, die in seinem bisherigen Leben wichtige Rollen gespielt haben: Berlin, seine Heimatstadt, Hamburg, New York, München, Manchester und Rio, und damit die Stadt in Brasilien, in der er 2014 Weltmeister geworden ist. Die Serie steht unter dem Motto „defend your style“ – verteidige deinen Stil. Das passt natürlich zu einem, dem ein ganz eigener Stil des Verteidigens zu eigen ist. Auf dem Platz braucht er allerdings keine Brille, um den Durchblick zu behalten, sondern Kontaktlinsen. Die Frage, ob die Welt auch noch die Brillen von Jérôme Boateng gebraucht hat, stellt sich nicht wirklich. Ihm selbst stehen sie, seine Modelle sind wie für ihn gemacht. Und sie sind anders. Und vielleicht wird es deshalb auch Abnehmer dafür geben. Hinter der Brillenmarke JB steht ein Lebensweg. Kein leichter, aber einer, der Blick für Blick nach oben geht. Weil der eigentliche Kapitän der Elf, Bastian Schweinsteiger, zwar in Frankreich dabei, nach diversen Bändergeschichten im Knie aber nicht voll belastbar ist, hat sich in der Fußball-Nationalmannschaft auf dem Platz eine Lücke aufgetan. Die Spielführerbinde hat sich Torhüter Manuel Neuer sehr gerne in den drei Gruppenspielen an den Arm gepfriemelt. Doch der eigentliche Chef im Ring ist der 27 Jahre alte Boateng, der zwar auch zu den Nationalmannschafts-Sorgenkindern zählte nach seiner beim Rückrundenstart beim 2:1 mit den Bayern in Hamburg erlittenen Muskelverletzung. Doch er hat die Kurve gerade so gekriegt und scheint nun so wichtig zu sein wie noch nie. Wie ein Bär haut er sich in die Spiele und riskiert ohne mit der Wimper zu zucken Kopf und Kragen. Und gehört zu den wenigen, denen es bisher gelungen ist, das partyfreudige deutsche Publikum zu verzücken. Dank seiner artistischen Rettung auf der Linie gegen die Ukraine (2:0), seiner Topleistung gegen seinen Münchner Teamkameraden Robert Lewandowski und damit gegen Polen (0:0) hat er sich in die Herzen der Fans gespielt. Vor allem auch wegen seines Ausrasters am Ende des Polen-Spiels, als er geschimpft hat wie ein Rohrspatz, weil es einen Freistoß für den Gegner in aussichtsreicher Position gab. Und nach dem Spiel gab es offene Kritik an der Offensive. Wenn es sich im Team zurzeit einer leisten kann, dann er. Bundestrainer Joachim Löw hatte sich den einen seiner beiden Weltklasse-Innenverteidiger vor dem Turnier zur Seite genommen und ihn aufgefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen, sich mehr zu exponieren und auf dem Platz auch mehr zu reden. Und das klappt wie am Schnürchen. „Er ist aber nicht erst seit jetzt, sondern schon länger ein Führungsspieler. Im WM-Finale war seine Leistung mitentscheidend. Er verkörpert Weltklasse“, sagt Löw, der nicht nur sportliche Bestleistungen erwartet, sondern hohe soziale Kompetenz. Vor Turnierbeginn drehte sich alles um Schweinsteiger. Nun gehört die Wade der Nation dem Vater von Zwillingstöchtern, der lange als hochtalentiert galt, aber auch gebraucht hat, bis er den Ernst des Fußballerlebens ganz begriffen hat. Seit der Groschen beim U21-Europameister von 2009 gefallen ist, muss sich der 1,92 Meter große Modellathlet vor niemandem mehr verstecken. Er spricht langsam und mit Bedacht, bringt Dinge auf den Punkt. Aber in dem sanften Riesen schlummert ein zweites Ich, das sehr impulsiv sein kann. So lange er in den richtigen Momenten explodiert, kann es der Mannschaft nur dienlich sein. Aufgewachsen ist der Sohn eines Ghanaers und einer deutschen Mutter in Berlin-Charlottenburg. Begonnen im Verein hat alles bei Tennis Borussia Berlin. Von dort ging es für ihn zu Hertha BSC (2000 – 2007) und weiter über die Stationen Hamburger SV (2007 – 2010) und Manchester City (2010 – 2011) zu den Bayern, mit denen er 2013 die Champions League gewann. Bei der EM wird er heute (18 Uhr) im Achtelfinale gegen die Slowakei in Lille aller Voraussicht nach in seinem 63. Länderspiel in der Startelf stehen. Die Wadenprobleme, wegen denen er gegen Nordirland (1:0) ausgewechselt worden war, scheinen kein Thema mehr zu sein. Gestern hat er beim Abschlusstraining in Évian-les-Bains ganz normal mitgemischt.

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