Rheinpfalz Der modische Makel

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Chantelle Winnie heißt ein neu aufgehender Stern am Topmodel-Himmel. Das ist erstaunlich, denn die junge Kanadierin entspricht in einem sehr offensichtlichen Merkmal nicht den üblichen Anforderungen der Modebrache: Ihre Haut ist scheckig. Ist ihr Erfolg ein Märchen – oder gar Kalkül?

Chantelle Winnie war ein wenig nervös auf der Bühne der Ted Talks in New York, sie tippelte unruhig hin und her und überspielte ihre Unsicherheit mit einem  leicht albernen Kichern, das ihre gerade einmal 20 Jahre verriet. Wer wollte es ihr verdenken?  Auf Laufstegen und in Fotostudios fühlt sie sich wohl, da ist sie, die neue Model-Sensation, selbstsicher und professionell.  Aber das Forum einer international  renommierten Innovationskonferenz, auf der Vordenker aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen ihre Ideen äußern,  ist etwas ganz anderes. Winnie war eingeladen, um über Schönheit zu sprechen, zugegeben: ein naheliegendes Thema für ein Model. Aber die Botschaft, die die Kanadierin mitbrachte, passte so gar nicht zu der Modewelt, in der sie lebt, jener Welt, die durch ihre Normierung von Schönheit Millionen von Frauen und Mädchen in Selbstzweifel und Unglück stürzt. „Ich weiß, es klingt wie ein Klischee“, sagte Chantelle Winnie, „aber für mich liegt in allen Dingen Schönheit, man kann sie überall finden.“ Das klingt zunächst zwar nach Poesiealbum, ist jedoch tatsächlich ihr Lebensmotto. Es hat sie viel Kraft gekostet, diese für die meisten Menschen schlicht wirkende Erkenntnis zu verinnerlichen. Gleichwohl war diese Energieleistung für die junge Frau absolut notwendig, um nicht als Mensch zu zerbrechen. Denn Chantelle Winnie, die als Chantelle Brown-Young zur Welt kam und sich später Winnie Harlow nannte, musste am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, in den Augen anderer von der herrschenden Norm abzuweichen: Als sie vier Jahre alt war, machte sich Vitiligo bei ihr bemerkbar. Diese Erkrankung der Haut führt dazu, dass an wahllosen Stellen des Körpers keine Farbpigmente mehr gebildet werden. Ein weißer Fleck entsteht. Dann noch einer. Und noch einer. Die Weißflächen können sich ausbreiten, sodass der Erkrankte im Laufe der Zeit scheckig gemustert ist. Für Menschen heller Hautfarbe ist das schon schlimm genug. Aber Chantelle Winnie hat von Geburt aus braune Haut. Ihr Körper ist ein Flickenteppich aus dunklen und hellen Bereichen. Ungewohnt. Irritierend. In der Schule musste sie sich wechselweise als „Kuh“ und als „Zebra“ beschimpfen lassen, begrüßt wurde sie allmorgendlich mit einem „Muuhh“. Die Anfeindungen wurden so unerträglich, dass Chantelle Winnie die Schulen mehrfach wechselte. Bis sie lernte, sich selbst in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren, sich wortwörtlich in ihrer Haut wohlzufühlen. „Ich habe irgendwann beschlossen, dass ich in keine Schublade passen muss, dass ich meine eigene Schublade gestalten kann“, sagte sie auf der Bühne in New York. Chantelle Winnie veröffentlichte Fotos von sich in sozialen Netzwerken, der Video-Produzent Shannon Boodram entdeckte ihr Foto auf Facebook – und sah den scheinbaren Makel in Chantelles Porträts als Besonderheit, als Vermarktungsplus, nicht als Ausschlusskriterium. So schrieb er sie an und bat sie darum, mit ihr ein Video drehen zu dürfen, in dem sie ihre Geschichte erzählt. Das Online-Video verbreitete sich rasch, US-Topmodel Tyra Banks holte die Kanadierin als Kandidatin in die Castingshow „America’s Next Topmodel“. Dort kam die selbstbewusste junge Frau in die Finalrunde, erste Modefirmen und Modelagenturen klingelten bei ihr an. Chantelle Winnie ist das neue Werbegesicht der Firma Diesel und Markenbotschafterin des spanischen Labels Desigual, das vorher durch das brasilianische Topmodel Adriana Lima vertreten wurde. Ihr Kalender für Shootings ist restlos voll, der Londoner Starfotograf Nick Knight nennt sie bereits seine neue Muse. Es klingt wie ein Märchen: Ein Mädchen mit Vitiligo ist auf dem besten Weg zum neuen It-Girl. Es klingt, als habe Chantelle Winnie nicht nur sich selbst davon überzeugt, dass in ihrer Andersartigkeit Schönheit liegt, sondern die gesamte Modebranche. Geschichten im Cosmopolitan, im Londoner Guardian und in der New York Times zelebrieren ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut. Das am häufigsten gebrauchte Attribut für den aufgehenden Model-Stern ist „inspirierend“. Weltweit wird sie als Ermutigung gesehen für junge Frauen, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Reiner Zufall ist es freilich nicht, dass ein Mädchen wie Chantelle Winnie genau jetzt die Modewelt aufrüttelt. Es ist auch ein Stück weit Kalkül. Schon bei der New Yorker Fashion Week 2013 notierte die New York Times, dass Models mit einem „Quirk“, salopp ausgedrückt: mit einer Macke, im Trend lägen. Gesucht wurde damals schon nach Frauen und Männern, die eben nicht in das klassische Bild der Laufsteg-Schönheit passen, einfach Typen mit Ecken und Kanten. Prominentestes Beispiel ist der 22 Jahre alte Shaun Ross. Ross ist Albino, seine Haare und Augenbrauen sind gelblich weiß, seine Augen fast gespenstisch transparent. Zudem weist seine Stirn eine deutliche Beule auf. Alles Merkmale, die ihn traditionell für den Modeljob disqualifiziert hätten. Doch Ross ist einer der gefragtesten Männer im Geschäft. Andere Beispiele des Quirk-Trends sind Cara Delevingne, die es mit ihren buschigen Augenbrauen bis aufs Cover des W-Magazins geschafft hat, und die Ex-Leistungsschwimmerin Casey Legler mit ihrem bulligen Körperbau und ihrer erkennbar männlichen Ausstrahlung. Oder die US-Schauspielerin Jamie Brewer, die wie Chantelle Winnie im Februar über den Catwalk der diesjährigen New York Fashion Week schritt – als erstes Model mit Down-Syndrom. Wayne Sterling, Kreativ-Direktor einer New Yorker Modelagentur, bezeichnet den Hang zum Quirk als Reaktion der Branche auf die Langeweile, die ihm voranging: „Man konnte doch ein Mädchen nicht mehr vom anderen unterscheiden. Alle sahen gleich aus.“ Doch jetzt hätten die Mächtigen des Geschäfts, die Fotografen, Redakteure und Designer beschlossen, dass sie davon genug haben, dass sie sich Ausdruck und Charakter wünschen. „Die wollen nicht mehr die Schönheit von der Stange“, sagt auch die Maskenbildnerin Robin Black, die von großen Modehäusern für deren Shootings gebucht wird. So ist Chantelle Winnie genau das richtige Mädchen für den richtigen Moment: das Aushängeschild für die neue Vielfalt und die Abkehr von der strengen Normierung, in der sich das Geschäft derzeit gefällt. Fragt sich nur, für wie lange.

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