Panorama "Den meisten Menschen ist es einfach völlig egal, was in Syrien passiert"

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Die re:publica gilt als Klassentreffen der Internet-Welt, in dieser Woche haben sich auf der Konferenz in Berlin wieder Hunderte Blogger, Journalisten und Internet-Pioniere getroffen. Auch die RHEINPFALZ war vor Ort und hat mit Julian Reichelt, dem Chefredakteur von Bild.de, über die Macht von Bildern, Pressefreiheit und Menschenwürde gesprochen.

Herr Reichelt, die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) hat Sie für einen "Verstoß gegen die Menschenrechte" gerügt, weil sie Bilder von toten Kindern aus dem Syrien-Krieg gezeigt haben. Warum wollen Sie das nicht auf sich sitzen lassen?

Es ging in unserem Artikel darum, darauf hinzuweisen, dass man nicht in die Verhandlungsfalle des syrischen Diktators Baschar al-Assad stolpern sollte, nach allen Verbrechen, die er begangen hat. Zum Beispiel Kinder mit Giftgas zu ermorden, diese Bilder haben wir gezeigt. Es wäre eine Schande, diese Bilder nicht zu zeigen, weil deutsche Politiker immer gesagt haben, sie wollen nie wieder Massaker zulassen und dann passiert es drei Flugstunden von Berlin entfernt und niemanden interessiert es. Ich habe lange Zeit selbst Bilder in Syrien gemacht und alle Betroffenen hatten vor allem einen Wunsch: Zeigt der Welt diese Bilder! Mich macht vor allem der Vorwurf der Verletzung der Menschenwürde fassungslos: Nicht wir haben die Menschenwürde verletzt, sondern Assad. Stumpft es Menschen nicht ab, wenn man Ihnen immer wieder diese Bilder zeigt? Nicht die Fotos lassen die Leute abstumpfen vom Krieg. Sie sind abgestumpft, sie interessieren sich nicht für diese Konflikte, wenn wir Sie nicht damit konfrontieren. Meistens sind nicht Politiker, sondern die Medien die letzte Verteidigungslinie zwischen einem Vernichtungskrieg und der Zivilbevölkerung. Ist nicht ein etwas hehres Ziel? Ich sage nicht, dass ich mit dem Zeigen dieser Bilder die Welt verändere, den meisten Menschen ist es einfach völlig egal, was in Syrien passiert. Aber unsere Aufgabe ist es, trotzdem weiterzumachen, bis dieser eine Moment kommt - wie zum Beispiel das Foto des toten Flüchtlingsjungens an einem türkischen Strand - der die Leute aufrüttelt und sie dazu bringt, sich gegen Missstände zu wehren. Würden Sie auch die letzten 30 Sekunden in dem Leben eines Kindes zeigen, das durch Giftgas stirbt? Ja, weil ich zeigen will, was Furchtbares passiert. Massenvernichtungswaffen sind nicht etwas Abstraktes, sondern das, was sie mit Menschen machen. Und die Außenminister des Westens sitzen mit dem Abgesandten eines Giftgasmörders am Tisch, also wurden die Bilder nicht oft genug gezeigt. Ich will, dass die Politiker zu ihrem "Nie wieder" stehen. Irgendwann werden wir uns dafür schämen, dass wir in Syrien so lange zugeschaut haben. Bei Terroranschlägen helfen Sie mit dem Verbreiten der Bilder vom Anschlag aber doch den Terroristen, ihre Propaganda unter die Leute zu kriegen. Mir ist es wurscht, was Terroristen wollen. Das wird niemals der Maßstab meiner journalistischen Entscheidungen sein.‎ Aber spätestens da sticht das Argument ja nicht mehr, dass die Angehörigen wollen, dass man die Bilder zeigt. Da hören Sie beides. Die Amerikaner sagen immer: Zeigt, was Terrorismus anrichtet! Die Deutschen sind da viel zurückhaltender. Da spielen die Traditionen von Pressefreiheit eine Rolle, die ist in Amerika viel breiter gefasst als hier. Da würde die Diskussion über so ein Foto Unverständnis hervorrufen. Der Kern unseres Berufes ist es, zu entscheiden, was ist relevant und was nicht. Manchmal ist es bequem, dem Argument nachzugeben, die Betroffenen wollen das nicht. Wir müssen dann entscheiden, ist es von einem überragenden Interesse der Öffentlichkeit, die Bilder trotzdem zu sehen und überragt dieses Interesse in diesem Moment das Interesse der Angehörigen?Wann immer ich das Gefühl habe, dass etwas ein Alltagsereignis ist, mag das Interesse der Betroffenen überwiegen. Wann immer ich aber das Gefühl habe, etwas Herausragendes oder gar Historisches ist geschehen, wie zum Beispiel bei den Anschlägen von Paris, dann dokumentiert die Berichterstattung das Konzept des Terrorismus, unsere Art von Leben auszuradieren.  Reicht es nicht, diese historische Erscheinung in Worten zu beschreiben? Ich glaube nicht. Die Frage, die wir klären müssen, ist: Wie wollen wir als Gesellschaft auf den Terror reagieren? Wir müssen das Wesen dieser Terror-Organisation verstehen, die uns auslöschen will. Und dieses Wesen versteht man manchmal erst, wenn man sieht, wie diese Auslöschung aussieht, zum Beispiel eben im Bataclan. Glauben Sie noch daran, mit Ihrem Beruf etwas verändern zu können? Ich halte es für meine Aufgabe, zu zeigen, was auf der Welt passiert. Wenn ich nach Syrien gehe und das nicht mache, bin ich völlig nutzlos, dann brauche ich nicht in einem Operationssaal in Aleppo zu stehen und den Leuten da den Platz wegzunehmen. Wenn ich die Hoffnung nicht mehr habe, dass meine Berichterstattung etwas verändert, muss ich aufhören mit dem Beruf.

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