Ludwigshafen Am Ende einer weiten Reise

Der 18. März 1945 war ein Sonntag, Palmsonntag, der letzte vor Ostern. Ein sonniger Tag, daran erinnert sich Richard Braun ganz genau. Ein schrecklicher Tag, an dem Bad Dürkheim in Schutt und Asche gelegt wurde. „Jetzt hauen wir ab“, lautete am nächsten Morgen in der Hoheneckenstraße 36 in Mundenheim die Devise. „Mit mehr Sack als Pack“, sagt Braun, „verließen wir unser Haus.“ Haßloch war das Ziel der Familie, die mit dem Leiterwägelchen unterwegs war. Sie kamen bis Limburgerhof, zu einer Schwester der Großmutter. Unterwegs überließen sie Soldaten ihr Proviant, eine Schüssel Kartoffelsalat. Dank seines phänomenalen Gedächtnisses und seines wachen Verstandes erinnert sich Richard Braun, der heute 86 Jahre alt ist, an viele Episoden aus jenem Frühling, in dem er ein 15-jähriger Jugendlicher war. Der ebenfalls warme Tag im April 1945, an dem die Familie zurückkehrte in das bei den Kämpfen um Ludwigshafen schwer beschädigte Haus ohne Dach ist einer, der ihm ganz besonders im Gedächtnis geblieben ist. Gemeinsam mit seinem Vater räumte er den Schutt zur Seite. Dass jemand seinen Tomahawk in die Kellertür gesteckt hatte, war das erste, das ihn verwunderte. Und dann fand er die Bibel. „Ich habe ein Brett zur Seite geräumt und sehe dann plötzlich das Büchlein da liegen“, berichtet er. „Es war vielleicht zwölf Zentimeter groß und mit einem handschriftlichen Eintrag versehen.“ Der Dienstgrad, eine Armeenummer und ein Name standen darin: Lee Largent hieß der Mann, der sein Neues Testament in der Ruine des Braunschen Anwesens zurückgelassen hatte. Weil er es vergessen hatte? Draußen eine Schießerei im Gange war? Er keinen Platz mehr im Gepäck hatte? Was passierte, wird sich nicht mehr klären lassen. In den nächsten Jahrzehnten passierte nichts. Soll heißen: nichts mit der Bibel. In Brauns Leben passierte eine Menge. Er heiratete, wurde Vater eines Sohnes und einer Tochter, war 19 Jahre lang in einer Schnellpressenfabrik tätig und anschließend 21 Jahre lang Exportleiter bei der BASF, zuständig für bestimmte Produkte und Märkte in Asien und Europa. Die Bibel? Lag im „Führerhauptquartier“, wie Braun sagt und dabei verschmitzt lächelt. Seine Frau nannte so spöttisch den Raum, in dem er alles aufbewahrte: die Bücher zum Zweiten Weltkrieg, seine umfangreichen Recherchen zu Luftangriffen. „Sie wollte nichts von diesen Dingen hören.“ In den zwei Gesprächsstunden stehen Richard Braun immer wieder Tränen in den Augen. Wenn er vom Schlaganfall erzählt, der seine Frau zum Pflegefall gemacht hat und ihn zum sich aufopfernden Ehemann, der sie Tag für Tag im Heim besucht und ihr mit Wattestäbchen Saft und Kaffee in den Mund tröpfelt, damit sie ihren Geschmackssinn nicht verliert. Wenn er vom Krebstod seiner geliebten Tochter erzählt. Aber immer wieder kommt auch sein Humor durch, den er sich trotz dieser Schicksalsschläge bewahrt hat. Und ein ungläubiges Staunen darüber, dass der Krieg, der einst Völker entzweite, Deutsche und Amerikaner heute zu verbinden vermag. Nachdem 1995 der Versuch gescheitert war, beim Besuch von Delegierten einer amerikanischen Infanteriedivision in Ludwigshafen mehr herauszufinden über den Bibeleigentümer Lee Largent, sollte es noch einmal 20 Jahre dauern, bis Braun Erik Wieman kennenlernte. Der 47-jährige Niederländer, der in Waldsee lebt und beim BASF-Werkschutz arbeitet, engagiert sich in seiner Freizeit in der Arbeitsgruppe Vermisstenforschung. Er war gleich elektrisiert, als er vor einigen Monaten – zu Besuch bei Braun zu Hause – die Bibel in Händen hielt. Und dann ging alles ganz schnell: Wieman recherchierte in einer Datenbank im Internet Einzelheiten zu Largents Biografie: 1912 geboren, war er am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet und an der Front schwer verletzt worden. Eine französische Familie versteckte und pflegte ihn, bis er sich wieder seinen Truppen anschließen konnte. Als er in Ludwigshafen ankam, war er schon 33 Jahre alt. Nach Kriegsende lebte er noch knapp 20 Jahre in seiner amerikanischen Heimat und starb schon 1964. Der Kontakt zu seiner Familie war abgerissen. Über die Reporterin einer Lokalzeitung und ein Ahnenforschungsinstitut machte Wieman die in der Nähe von Cadillac, Michigan, lebende Schwester ausfindig. Sie ist 89 Jahre alt und hatte ihren Bruder nicht mehr gesehen, seit er mit 16 sein Elternhaus verlassen hatte. Da war sie zwei. Die beiden, Joyce Johnson und Richard Braun, haben inzwischen miteinander telefoniert und beschlossen, einander auch zu schreiben. Die Bibel wurde sorgfältig verpackt und auf den Weg gebracht. Im Vergleich zu den 71 Jahren, die sie in Mundenheim geschlummert hatte, waren die 15 Tage kurz, die sie für die Reise brauchte. Angekommen ist sie am 18. März. In Ludwigshafen war das ein schöner, sonniger und diesmal zum Glück friedlicher Tag.

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