Rheinpfalz 3-0-0

Rot, Blau, Grün, Gelb, Türkis, Pink. In diesen Farben kommt der Videotext daher. Auf eine Seite passen gerade mal 25 Bildzeilen mit je 40 Zeichen. Es reicht knapp für Nachrichten, Infos zum Film oder Untertitel für Gehörlose. Noch immer nutzen das Millionen Fernsehzuschauer. Warum eigentlich? Von Lutz Schwab

Zeitreise gefällig? Keine Sorge, H. G. Wells und seine olle Zeitmaschine können im Schrank bleiben. Ein Griff zur Fernbedienung reicht völlig. Nur zu. Einfach die Taste mit den drei Linien drauf drücken, bei manchen Modellen auch die TXT-Taste. Voilà: Die frühen 1980er sind erreicht. „Faszinierend“, würde Mister Spock jetzt sagen. Machen wir uns einmal vertraut mit der Vergangenheit. Die frühen 80er. „Pac Man“ macht seine ersten Versuche im Labyrinth und in vielen Wohnzimmern ist eine Spielekonsole von Atari am Fernseher angestöpselt, auf der die Kleinen „Pong“ spielen. Die ersten Videorekorder stehen neben der Familienglotze. Der Film- und Fernsehheld Ronald Reagan schickt sich an, mächtigster Mann der Welt zu werden. Na also. Jetzt haben wir alles im Kasten. Und die größte Revolution findet zu dieser Zeit im Verborgenen statt, praktisch in einer Lücke. In der sogenannten Austastlücke zwischen den Fernsehbildern werden nämlich zum ersten Mal in Deutschland Informationen übertragen. Der Videotext ist geboren. Viel ist es nicht, was in die Lücke passt. 96 Zeichen können dargestellt werden, alle in einer Schrift ohne Über- und Unterlängen, alles etwas pixelig und grob. Aber rasant. In einer Zeit, in der die ersten Geräte zur Datenübertragung zwischen Computern noch an den Hörer des beigen Post-Wählscheiben-Telefons geklettet werden müssen und ungefähr so schnell sind wie die Übermittlung der Einkaufsliste durch die schwerhörige Oma, schafft es die Übertragung von Daten via Fernsehsignal auf stattliche 128 Kilobit pro Sekunde. Holla, die Waldfee! Und in bunt. Sechs Farben zu einer Zeit, als Computer ihre Bilder wahlweise in Grün oder Bernsteinfarbe anzeigen. Dann wollen wir mal die ersten Gehversuche in der alten Zeit machen. Tippen wir auf der Fernbedienung 3-0-0 ein. Geduld. Braucht ein bisschen. Die Technik mag zu ihrer Zeit schnell gewesen sein, aber sie hat nichts mit Hightech zu tun. Der Fernseher wartet einfach drauf, dass die gewünschte Seite mit der Nummer 300 mal wieder im Datenstrom vorbeikommt. In einer Endlosschleife übertragen die Fernsehsender beim Videotext nämlich alle Seiten, eine nach der anderen, eine nach der … 298, 299 – na, endlich! Die Übersicht des heutigen Programms. „Frauentausch“ und „The Walking Dead“. Was? Nichts dabei? Na, so was aber auch. Dann schalten wir die Glotze halt einfach wieder aus. Okay, inzwischen gibt es Smartphones, Tablets, Computer, Glasfaserleitungen und Video on demand. Kinder rennen vor den Bus, weil sie vor lauter Whatsappen vergessen haben, dass sie auf dem Weg zur Schule sind. Versicherungen und Urlaube buchen wir online, und alle paar Minuten rappelt und bingt es in unserer Umgebung, weil uns ein paar Nachrichten-Apps mit „Breaking News“ versorgen. Sogar unsere Auto-Navis vernetzen sich mit anderen Auto-Navis digital per Funk und stellen damit fest, wo die Navigationskollegen im Stau stehen. Warum gibt es in so einer Welt überhaupt noch den Videotext? Weshalb beschäftigt die ARD 18 Redakteure für den Service, der sie nach eigenen Angaben mehr als 1,7 Millionen Euro jedes Jahr kostet? Sicher, es gibt einen Nutzwert, der Beziehungen rettet. Wenn die Frau oder Freundin beispielsweise irgendeinen Schmachtfilm sehen will, während gleichzeitig Champions League auf einem anderen Kanal läuft. Als hätte sich Oswalt Kolle den Trick zur besseren Zweisamkeit ausgedacht, liefert der Videotext halbtransparent den aktuellen Spielstand dezent am Bildschirmrand. Leonardo Di Caprio kann in aller Ruhe um Kate Winslet balzen, bis der Kahn mal wieder absäuft – das entscheidende Tor kann trotzdem bejubelt werden. Noch ein paar Salzstängelchen, Schatz? Auch Untertitel können eingeblendet werden, falls die Pferde im Fernsehen wieder nuscheln, wie es bei „Hudson Hawk“ heißt. Lottozahlen, Nachrichten, sogar Bildschirmkunst gibt es beim Videotext. Aber warum, warum, verdammt, muss es so eine alte Technik sein? Die Glotze hat sich in den vergangenen 35 Jahren doch auch weiterentwickelt. Damals konnte der Sprössling die alte Schwarz-Weiß-Kiste fürs Kinderzimmer haben, der neue Familienfernseher war bunt. Und er hatte eine Fernbedienung, die Haustiere und kleine Kinder aufschreckte, weil sie mit schrillen Fiepgeräuschen funktionierte. Heute gibt es Flachbildschirme, 3-D-Fernseher, gekrümmte Displays, Ambilight und Surround-Sound, High-Definition-Television, TV-Sticks und Smart-TV – und eine Multifunktionsfernbedienung, die im Bedarfsfall sogar die Rollläden herunterlässt, das Licht in der Küche ausmacht und die Klobrille runterklappt. Doch selbst die modernste HD-TV-Glotze kann noch Videotext. Einzige Innovation: Einige Hersteller geben ihren Apparaten die segensreiche Fähigkeit mit, Videotextseiten im Hintergrund zu laden und zu speichern, damit das Seitensuchen ein bisschen schneller wird. Das war’s dann aber schon. In Großbritannien, wo der Videotext Mitte der 1970er erfunden wurde, hat man inzwischen den Stöpsel gezogen. Seit 2012 ist dort Schluss mit Pixel und Lücke. In Deutschland, wie in vielen anderen europäischen Ländern, ist das undenkbar. Die ARD meldet sogar, die Zahl der Nutzer ihres Videotext-Angebots steige, und inzwischen schauten mehr als 18 Millionen Menschen täglich vorbei. Nun ist natürlich jede Statistik nur so gut wie derjenige, der sie gefälscht hat. Und man muss berücksichtigen, dass der ARD-Durchschnittszuschauer 60 Jahre alt ist, der des Bayerischen Rundfunks (BR) sogar stramme 64 – so alt, wie Walter Sedlmayr von der „Polizeiinspektion 1“ wurde. Wer also heute zu den Öffentlich-Rechtlichen zappt und mit zittrigen Fingern Zahlen eintippt, hat das Medium Videotext als junger Mensch kennengelernt. So jung wie Michael Landon in „Unsere kleine Farm“ – so jung wie der heutige Durchschnittszuschauer von Pro7: 30 bis 35 Lenze jung. Es wäre aber bösartig, die durchschnittliche Nutzungsdauer des ARD-Videotext-Lesers auch so zu bewerten – nach dem Motto: Die Leute lesen nur deshalb viereinhalb Minuten pro Tag die Pixelseiten, weil sie mit der Bifokalbrille halt Schwierigkeiten haben. Das gibt die Statistik nicht her. Doch bleiben wir beim Interpretieren. Wer Videotext liest, liegt meistens auf der Couch. Smartphone und Tablet sind zwar in Reichweite – aber die Fernbedienung ist der Schlüssel zur Macht. Mit ihr wird ohnehin durchs Programm gezappt. Von RTL2 zu Sat1, zu Vox, zu Sixx. Mit ihr auch noch Ziffern einzutippen, Unterseiten aufzurufen – das hat etwas von aktiver Informationsbeschaffung. Nicht die App entscheidet, was „Breaking News“ sind, sondern der Machthaber mit der Fernbedienung. Und sind wir mal ehrlich: Als das World Wide Web erfunden wurde, ging es um eine Nachrichtentechnik, die auch im Falle eines Atomkriegs funktioniert. Tief im Inneren wissen wir jedoch: Es wird der Videotext sein, der weiter die letzten Lottozahlen in Endlosschleife sendet, wenn diese Welt einmal von einem extraterrestrischen Bautrupp abgerissen wird, wie in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Billy Joel hatte 1977 wohl eine Vision, als er sang: „Only the Good Die Young.“ Videotext für immer.

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