Politik Leitartikel: Glück gehabt

Wer sich in Europa umschaut, stellt fest: Ob Adenauer, Brandt, Kohl oder Schröder – die Bundesrepublik ist in der Vergangenheit im Wesentlichen gut gefahren mit ihren Regierungschefs.

Angela Merkel oder Martin Schulz. Die Wahl ist erst am Sonntag, 18 Uhr, entschieden. Dann schließen die Wahllokale. Aber unabhängig davon, wer die nächste Regierung anführt, Deutschland ist in der Vergangenheit im Wesentlichen gut gefahren mit seinen Regierungschefs. Konrad Adenauer hat die Bundesrepublik dauerhaft in die westliche Staatengemeinschaft verankert. Willy Brandt (1969 – 1974) hat eine öffnende Innenpolitik betrieben („Mehr Demokratie wagen“) und eine versöhnende Ostpolitik. Helmut Schmidt (1974 – 1982) hat in gesellschaftlich aufgewühlter Zeit Kurs gehalten. Helmut Kohl konnte das Kapital „Vertrauen“ bei den früheren Alliierten einsetzen für die Missionen Wiedervereinigung und Europäische Einheit. Gerhard Schröder (1998 – 2005) hat das Land umgebaut. Noch heute müsste die politische Konkurrenz Schröder einmal im Jahr mit einer Sänfte um das Reichstagsgebäude tragen aus lauter Dankbarkeit für dessen Reformen, für die Kohl die Kraft nicht mehr hatte und deren Früchte Merkel erntet. Gelegentlich lässt der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus die eigene Lage besser erkennen. Italien, beispielsweise, hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 28 verschiedene Ministerpräsidenten. 15 von ihnen haben die Regierung mehr als einmal angeführt. Der Christdemokrat Amintore Fanfani hat so kunstfertig italienische Politik gemacht, dass er zwischen 1965 und 1987 sechsmal Ministerpräsident war. Während seiner ersten Amtszeit regierte er allerdings nur 21 Tage lang. Allein seit Beginn der laufenden Legislaturperiode 2013 ist Paolo Gentiloni nach Enrico Letta und Matteo Renzi der dritte Ministerpräsident in Rom. Die sieben Chefs und die eine Chefin im Bundeskanzleramt waren dagegen im Durchschnitt achteinhalb Jahre im Dienst, Helmut Kohl (1982 – 1998) gar 16 Jahre lang. Merkel hat seit Amtsantritt 2005 mit sechs verschiedenen italienischen Regierungschefs, vier französischen Präsidenten und vier britischen Premiers verhandelt.

Eine Folge der langen Amtszeiten der Bundeskanzler ist die Beständigkeit der deutschen Politik.

Der europäische Vergleich zeigt: In Deutschland haben Bundeskanzler vergleichsweise lange Amtszeiten. Lange zu regieren, heißt allerdings nicht zwangsläufig, gut zu regieren. Vor allem dann nicht, wenn Amtsinhaber am Sitzmöbel kleben und den Absprung verpassen. Am Ende der Ära Helmut Kohl lag Mehltau über dem Land. Deutschland war blockiert. Auch in Konrad Adenauers Regierungszeit (1949 – 1963) waren die letzten Jahre nicht wirklich gedeihlich. Aber die vergleichsweise langen Kanzlerschaften haben vermutlich erheblich zur beständigen bundesdeutschen Politik seit 1949 nach innen wie nach außen beigetragen. Erratische Politik, wie etwa vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras vollführt, oder Zockereien, wie die Ansetzung des „Brexit“-Referendums durch den Briten David Cameron mit nach wie vor nicht abzuschätzenden Folgen, hat es hierzulande nicht gegeben. Auch Kompromissbereitschaft, manchmal als ungenießbare Konsenssoße geschmäht, hat die Bundeskanzler der Vergangenheit ausgezeichnet. Monatelange Hängepartien bei der Regierungsbildung, wie seinerzeit in Belgien oder derzeit in den Niederlanden, hat es in Bonn und Berlin nicht gegeben. Die Härte und Unnachgiebigkeit, die der spanische Regierungschef Mariano Rajoy derzeit gegenüber den Katalanen an den Tag legt, wären in der deutschen Politik eher unüblich. Deutschland hatte im Wesentlichen Glück mit seinen Regierungschefs. Sonderseite zur Bundestagswahl 2017

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