Politik Einer, der Mut machen will

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„Muslime verändern unser Land weniger, als wir die Muslime verändern.“ Als Christian Wulff diesen Satz ausspricht, ist unter den 500 Besuchern in der Speyerer Gedächtniskirche Skepsis zu spüren. Denn wie sieht es beispielsweise mit der Haltung der Muslime zur Gleichberechtigung von Mann und Frau aus? Entspricht sie doch in vielen Fällen nicht unseren Werten. Wulff scheint die Gedanken zu ahnen. Er erinnert die Zuhörer daran, dass in Deutschland ein langer Weg bis zur Gleichberechtigung zurückgelegt werden musste. „Noch Anfang der 70er Jahre konnte eine Frau nur mit Zustimmung ihres Ehemannes ein Konto eröffnen.“ Mancher nickt. Wulff setzt auf den Faktor Zeit und stellt bereits Veränderungen fest: Das Macho-Gehabe muslimischer junger Männer nehme ab, das Selbstbewusstsein der Frauen hingegen zu. Christian Wulff, der von 2010 bis zu seinem Rücktritt im Februar 2012 Bundespräsident war, scheint mit einer Botschaft nach Speyer gekommen zu sein: Er will Mut machen, sich gegen Rassismus, Populismus und Nationalismus zu stellen; Mut machen, gemeinsam die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu verteidigen. Wulff redet nicht einem Multikulti-Staat das Wort. Für ihn ist die Richtschnur einer offenen Gesellschaft das Grundgesetz. Wer das nicht akzeptiere, müsse mit entschlossener Gegenwehr rechnen. Das gelte für islamische Fundamentalisten wie für Rechts- oder Linksextremisten, wird er deutlich. Angesichts nationalistischer Strömungen und der Debatte über Obergrenzen für Flüchtlinge will Hartmut Metzger, Chefredakteur des „Evangelischen Kirchenboten“, wissen, ob es eine neue Widerstandsbewegung brauche – „wie vor 500 Jahren“. „Nun, wir müssen ja nicht so mutig sein wie Martin Luther“, greift Wulff das Stichwort auf. Aber beim Thema Flüchtlinge sollte man nicht aus dem Bauch heraus reagieren, sondern den Kopf einschalten. „Differenzieren ist das Gebot der Stunde.“ „Braucht es ein Islamgesetz und Lehrstühle für islamische Theologie?“, nimmt RHEINPFALZ-Chefredakteuer Michael Garthe Bezug auf die Forderung nach einem Gesetz, das die Rechte und Pflichten der Muslime in Deutschland festlegt. „Ich möchte seit Jahren, dass in Deutschland in Moscheen auf Deutsch gepredigt wird. Dafür müssen wir aber die Voraussetzungen schaffen“, sagt Wulff. An fünf Zentren würden bereits Imame und islamische Religionslehrer ausgebildet. Dieser Weg sei effektiver, als per Gesetz Vorgaben zu machen, davon ist Wulff überzeugt. Nun kommt die Stunde der Schüler. Erstmals in der Veranstaltungsreihe können sich junge Leute einmischen. Die Elftklässler des Leistungskurses Sozialkunde des Speyerer Hans-Purrmann-Gymnasiums tun das couragiert mit kurzen Fragen. Statt in den roten Sesseln – von denen ohnehin nur drei im Chor der Gedächtniskirche stehen – findet die lockere Gesprächsrunde an Stehtischen statt. Dario Resch kommt gleich zur Sache: „Sollte die Türkei Mitglied der EU werden?“ Für eine Mitgliedschaft müssten die EU und die Türkei aufnahmefähig sein, antwortet Wulff. Beide seien es nicht. Bekanntlich ist die EU mit dem Brexit beschäftig und die Türkei steht vor einem Referendum für eine Verfassungsänderung. „Wie hätten Sie auf die Nazi-Vergleiche aus der Türkei reagiert?“, macht Alina Zielke weiter. Wulff findet die Reaktion der Regierungsspitze, die die Kritik zurückwies, richtig. Sie sei den Provozierungen aus der Türkei „nicht auf den Leim“ gegangen. „Wir wollen eine gute Beziehung zum türkischen Volk und uns nicht an der Verhärtung der Fronten beteiligen“, sagt Wulff. Dario will wissen, ob die Flüchtlingskrise die Europäische Union schon auseinanderdividiert habe? Weder Ja noch Nein kommt dem CDU-Politiker über die Lippen, dafür Selbstkritik: „Wir waren zu selbstsüchtig.“ Als die Flüchtlinge auf italienischen und griechischen Inseln landeten, habe Deutschland auf das Dublin-Abkommen gepocht. Danach muss ein Flüchtling in dem Staat um Asyl bitten, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat. „Als dann die Flüchtlinge in Scharen zu uns kamen, forderten wir eine Quote zur Flüchtlingsverteilung in Europa“, so Wulff. Das ist nicht gut angekommen ist. Viele Länder weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen. Das Thema Islam ist noch nicht abgehakt. „Hat sich Ihre Ansicht gegenüber dem Islam verändert?“, fragt Alina den ehemaligen Bundespräsidenten. Es war Wulff, der am 3. Oktober 2010 beim Festakt zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in Bremen sagte: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Der 57-Jährige räumt ein, er habe „die Größe der Herausforderung“ unterschätzt. „Ich dachte, alle stimmen zu. Das passierte nicht.“ Später am Abend erklärt er, was ihn zu dieser Aussage bewogen hat. 2010 war das Jahr, in dem Thilo Sarrazin sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ auf den Markt brachte. Und damit die Angst vor Flüchtlingen aus „fremden Kulturkreisen“ schürte und rechte Bürgerbewegungen stärkte. Während dieser Debatte habe er Briefe von Migranten erhalten, „die sich nicht mehr wohl- und ausgegrenzt fühlten“ und ein Zeichen wollten, dass Deutschland ihr Zuhause ist, erklärt Christian Wulff. Bevor die drei Gymnasiasten das Podium räumen, wollen sie noch einen Rat des früheren Bundespräsidenten –„einen allgemeinen“. Wulff gibt ihnen Folgendes, kurz gefasst, mit auf den Weg: Baut auf eure Stärken, macht euer Ding, lasst euch von niemandem von euren Zielen abhalten. Wulff vergisst auch die grauhaarigen Besucher nicht. Die Politik habe die Probleme, die durch kulturelle Vielfalt entstünden, auf dem Radar, beruhigt er sie. „Aber Deutschland wird sich nicht negativ verändern, wenn wir zu unseren Werten stehen und sie von denjenigen, die kommen, einfordern.“ Dankbarer Applaus. 14 Veranstaltungen in neun Jahren, rund 10.000 Besucher – Michael Garthe zieht zum Ende der Veranstaltungsreihe Bilanz. Die beiden Chefredakteure sind zufrieden. Eines haben sie allerdings nicht zuwege gebracht: Martin Luther schlug 95 Thesen an die Kirchentür von Wittenberg (erzählt man sich), Garthe und Metzger haben nur insgesamt 84 Speyerer Thesen veröffentlicht.

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