Politik Berlin verschärft die Gangart gegenüber Ankara

«Berlin/Ankara.» Auslöser für die scharfe Reaktion der Bundesregierung war die Verhaftung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner wegen „Terrorverdachts“ in der Türkei. „Wer unbescholtene Besucherinnen und Besucher seines Landes unter wirklich hanebüchenen, ja abwegigen Beschuldigungen festnimmt, und in Untersuchungshaft verbringen lässt, der verlässt den Boden europäischer Werte“, sagte Gabriel gestern in Berlin. Nach Erkenntnissen der Bundesregierung sind seit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr 22 deutsche Staatsbürger festgenommen worden. Aktuell seien noch neun in Haft. Deutsche seien in der Türkei nicht mehr sicher vor willkürlichen Verhaftungen, sagte der Außenminister. Daher habe das Auswärtige Amt seine Reise- und Sicherheitshinweise angepasst. Künftig werden nicht mehr nur Gruppen wie Journalisten, sondern alle Deutschen gewarnt, dass sie unter Verdacht der Unterstützung von Terrororganisationen verhaftet werden könnten. Vor dem nächsten Schritt, einer offiziellen Reisewarnung, machte die Bundesregierung aber noch keinen Gebrauch. Das Auswärtige Amt rät Türkei-Reisenden aber, sich bei der Botschaft oder Konsulaten registrieren zu lassen. Gabriel sagte, das Vorgehen sei mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem SPD-Vorsitzenden Martin Schulz abgesprochen. CSU-Chef Horst Seehofer berichtete, er sei von Gabriel informiert worden und trage die Maßnahmen mit. „Aber ich halte noch mehr für notwendig.“ Einzelheiten nannte Seehofer nicht. Von der türkischen Regierung kam eine harsche Reaktion. Der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan warf der Bundesregierung versuchte Einflussnahme auf die türkische Justiz vor. „Sie wollen, dass die Justiz in der Türkei eine Institution ist, die ständig Befehle entgegennimmt“, sagte Ibrahim Kalin in Ankara. Die neuen Reisehinweise verurteilte Kalin. Von einer Gefährdung von Deutschen in der Türkei könne „gar keine Rede sein“. Terrorverdächtige Deutsche und rechtskonforme Bundesbürger in der Türkei „in einen Topf zu werfen“, sei „politische Verantwortungslosigkeit“, kritisierte er. Gabriel forderte indes auch die EU auf, wegen der Verhaftung von Menschenrechtlern Zahlungen an die Türkei zu überprüfen. Ein Sprecher der EU-Kommission sagte dazu, „alle Finanzierungsentscheidungen werden gemeinsam von den Mitgliedstaaten getroffen.“ Schon heute würden EU-Finanzhilfen lediglich in sorgfältig ausgesuchte Bereiche fließen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte die EU-Kommission bereits vor längerem damit begonnen, die wegen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei zurückzufahren. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) beklagt den Konfrontationskurs der Türkei gegen Deutschland. „Für die deutschen Unternehmen in der Türkei wächst im Stundentakt mit jeder weiteren diffusen, unbegründeten Anschuldigung die Unsicherheit“, sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang im Interview mit der RHEINPFALZ. Der Vorgang beunruhige die deutsche Industrie, er sollte aber nach Langs Worten auch die türkische Regierung beunruhigen. „Denn der wichtigste Handelspartner der Türkei ist Deutschland“, so der Verbandsgeschäftsführer. Die Hermes-Bürgschaften als Druckmittel zu benutzen hält der BDI für problematisch, „weil wenig effizient“. Bereits im vergangenen Jahr sei das Deckungsvolumen für Geschäfte mit der Türkei von über zwei Milliarden Euro auf knapp eine Milliarde Euro um die Hälfte eingebrochen. Kommentar, Fragen & Antworten: Seite 2, Interview: Seite 3; Wirtschaft

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