Kultur Voll der Schlag

Die Neunziger sind zurück. Zumindest in der Mode. Pfui, oder? Unsere Autorin feiert jedenfalls ihre Schwäche für Bomberjacken, Schuhe mit Plexiglas und Schlaghosen.

Ich bin verliebt in eine Bomberjacke aus glänzendem Polyester. Rosa. Weit. So richtig weit. Wer keinen Schimmer von den aktuellen Schnitten hat, hält sie wohl für Umstandsmode. Egal. „Hässlich. Sieht echt aus wie ein Kartoffelsack“, sagen meine Freundinnen. Aber es kommt noch schlimmer. „Die Mode dieses Jahr ist sowieso furchtbar. Irgendwie Neunziger, da gefällt mir nichts“, meint eine. Die anderen nicken brav. „Aber sie ist doch genial, gerade weil sie ein bisschen hässlich ist“, sage ich. Stille. Kopfschütteln bei den Mädels. Böse Zungen behaupten, die wirklich aufregenden Momente in der Mode haben die Kinder der Neunziger verpasst. Marlene Dietrich im Hosenanzug, Coco Chanel und Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen oder Jane Birkin in Hotpants. Aber dass früher einfach alles besser war, weil es eben früher war, das kann kein Argument sein. Dennoch denken viele, wenn sie etwas als „irgendwie Neunziger“ bezeichnen, an nichts Gutes. Dabei hatte dieses Jahrzehnt durchaus seine Ikonen, die Modegeschichte schrieben. Prägend war zum Beispiel der Stil von Nirvana. Frontmann Kurt Cobain in Flanellhemd und abgelederten Chucks. Ganz, ganz lecker. Und dann die überschönen Supermodels wie Cindy Crawford, Naomi Campbell und Claudia Schiffer. Kultstatus erlangte auch Uma Thurman als anzugtragende Mia Wallace in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Ebenso ikonisch: Natalie Portman alias Mathilda, die im Kultfilm „Léon – Der Profi“ Halsband mit Anhänger trägt. Wer möchte nicht wieder so aussehen? Modisch war in diesem Jahrzehnt alles möglich. Auch, weil die Neunziger als Epoche der Verlegenheit gelesen werden können. Im Osten öffneten sich Schlagbäume, die zuvor noch unüberwindbar waren. Mit dem Abtauchen einer geteilten Welt mit zwei Supermächten verdampfte ein Modell, das über Jahrzehnte hinweg Lebensstile geprägt hatte. Dem westlichen Way of Life fehlte plötzlich ein kommunistisches Gegenkonzept, zu dem er sich verhalten konnte. Es war wie ein Fußballspiel auf einem Feld, auf dem die Seitenlinien verwischt wurden. Ein regelloser Raum ohne Orientierungsmöglichkeit. Man muss kein Psychologe sein, um erahnen zu können, dass nach einem solchen Urknall die Suche nach einer neuen Identität beginnen muss. Auch in der Mode. Das klingt nach Abenteuer – und grenzenloser Freiheit. Ein Ergebnis dieser Suche war, dass geschlechtsneutrale Unisex-Mode en vogue wurde. Stichwort Calvin Klein. T-Shirts des Labels waren in den neutralen Farben Schwarz, Grau und Weiß erhältlich. Und das Design war für beide Geschlechter gleich. Nadel und Faden wurden zu Utensilien für die Restrukturierung der neuen Welt. Heute gehen Modeschöpfer einen Schritt weiter. Beispiel Bomberjacke. Lange war sie eine berühmt-berüchtigte Insignie der Neunzigerjahre, Accessoire zu Glatze und Springerstiefeln — ein gängiges Bild vom Vorzeige-Rechten. Heute tragen sie friedfertige Mädchen und Frauen in Puderrosa oder Babyblau. Und denken sich nichts dabei. Welch Ironie. Dieses Jahr gibt’s Fliegerjacken von Gucci bis Valentino, bestickt mit Blumen und Schmetterlingen — auch für Jungs. Befreit ist das Jäckchen also nicht nur vom Braune-Buben-Image, es will in seiner Blumenpracht auch von Männern getragen werden. Zart trifft auf Bart — nur ohne Widerspruch. Mit dem Revival der Neunziger ist nun auch ein weiterer, nicht minder polarisierender Klassiker zurück: die Schlaghose. Während in den Sechzigern Blumenmädchen mit Cowboyblusen in diesen Hosen zur Musik der Rolling Stones tanzten, trägt die Frau von heute Schlaghosen mit bauch- oder schulterfreiem Top. Und unter dem Hashtag „Streetstyle“ oder „OOTD“ posten Stars und Modefans alltagstaugliche Trends fernab der Laufstege – auch mit Schlag. Dies soll keine Verteidigungsschrift für die Neunziger sein, aber wer Mode nicht mag, nur weil er sie hässlich findet, versteht sie nicht. Die Modesünden waren damals Absicht. Stil? Bewusst irrelevant. Wichtig war nur, dass das auch so rüberkam. Die textile Avantgarde spazierte am liebsten auf Plateau-Turnschuhen herum, die Buffalo heute als „Classics“ verkauft. Hässlicher geht’s tatsächlich kaum. Aber keine Sorge, außerhalb der Technoszene werden die nicht aus der Versenkung geholt. Die aktuellen Treter mit Absatz sind auf ihre Art eigenwillig. Von schlicht bis schrill mit Metallic- und Glitzerapplikationen reichen die Varianten. Ein zweiter Schuhtrend: Absätze aus Plexiglas. Wer sie scheußlich findet, den kann ich verstehen. Ich trage sie trotzdem. Manche denken vielleicht, man möchte damit nur auffallen. Oder man sei ein Opfer der Modeindustrie – sind wir das nicht alle? Aber Mode ist ein Spiel – und sie macht nur Spaß, wenn man sich an die Spielregel hält. Und die lautet: Freiheit.

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