Kultur Verliebt ins Utopische

„Der Westen blutet aus tausend Messerstichen“: Drastischer als der Dichter Helmuth Opitz könnte man den Zustand unseres Jahrhunderts kaum beschreiben. Wie reagiert die Gegenwartsdichtung darauf? Die Anthologie „Aus Mangel an Beweisen“ gibt einen Überblick. Herausgegeben haben sie zwei Heidelberger. Kerr-Preisträger Michael Braun, der auch für die RHEINPFALZ schreibt. Und Hans Thill, Dichter und künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Edenkoben.

Obwohl sich die heterogene Szene kaum auf wenige Schlagworte reduzieren lässt, zeichnen sich recht klare Tendenzen ab: Sie ringt mit politischen Zäsuren unserer Zeit, bevor sie uns zu utopischem Denken animiert. Dazu werden noch Natur und das spätmoderne Subjekt gerettet. Unverkennbar wird bei einem Großteil der Lyriker zunächst der Anspruch, Seismograf für die Erschütterungen der Gesellschaft sein zu wollen. Vor allem die kontroversen Debatten um Migration rufen bei den meisten ein Bekenntnis zum offenen Weltbürgertum hervor. Und da Lyrik sich schon leichtfüßig über grammatische Reglements hinwegsetzt, sprengt sie mit Verve politische Grenzen – besteht doch etwa, wie Barbara Köhler in einem Gedicht zur Flüchtlingskrise sprachspielerisch darlegt, „zwischen fremd und freund“ offenbar nur eine „halbe kehre vom m zum un“. Wer allzu rasch das Verbindende unter den Menschen vergisst, den fordern die Dichter immer wieder dazu auf, sich des Verlaufs der Geschichte zu vergegenwärtigen. Marion Poschmann hält etwa die im Stillen vergrabenen Toten der Kriege des 20. Jahrhunderts dazu an, sich doch endlich mahnend zu Wort zu melden. Aufrütteln lautet das Gebot der Stunde auch in anderen Feldern: Neben der Konsum- und Kapitalismuskritik finden sich in neueren Texten ebenso die Klagen jüngerer Poetinnen, darunter Nancy Hünger, Lea Schneider oder Silke Scheuermann, über die vermeintliche Antriebs- und Orientierungslosigkeit ihrer Generationen wieder. Vor allem die Verantwortung für die Umwelt steht im Fokus. Wenn die heutigen Dichter im Zeichen des Anthropozäns, also des aktuellen Erdzeitalters, über Treibhausgase, Ressourcenausbeutung sowie etwa den Verlust der Artenvielfalt, schreiben, dann zeigen sie jenseits des kritischen Potenzials vor allem die produktive Kraft der Poesie auf: Sie vermag das Vergängliche im Augenblick zu bewahren. Ihre Autoren vermitteln uns ein Gespür für all das, was verloren zu gehen droht. Jan Wagner beschwört die Stärke des Bienenstamms, Oswald Egger träumt von Tälern, die von einer märchenhaft-paradiesischen Pflanzenvielfalt zeugen, und Gerhard Falkner lässt unsere DNA mit blühendem Moos verschmelzen. Während in der Realität Zivilisation und Ökosphäre oftmals als Gegenpole gesetzt werden, haben die Dichter diesen Gegensatz längst überwunden. Mensch, Fauna und Flora erweisen sich in ihren Zeugnissen als zunehmend hybrid. Alles ist „untereinander und miteinander vermengt“ (Julia Trompeter). Selten war dabei der Zeilensprung ein so bedeutungstragendes Mittel wie heute: Er sorgt für ein Fließen und Gleiten, rekurriert in der Epoche des Klimawandels wieder auf Idee eines frühromantischen Gleichgewichts. Die Lyrik der Spätmoderne ergeht sich also nicht ausschließlich in fatalistischen Diagnosen. Vielmehr zielt sie auf Erneuerung. Sie ist – und darin offenbart sie die markanteste Tendenz dieser Tage – verliebt in das Utopische. Es gilt, das Ruder rumzureißen, die Melancholie im Angesicht der Katastrophen als Chance des Aufbruchs zu verstehen. In ihrem Text „Sieben Wünsche“ geht es Ilma Rakusa „um den Machtwechsel / der Verzweiflung Richtung Möglichkeit“. Jürgen Nezda gebraucht sogar den von Robert Musil entlehnten Begriff des „Möglichkeitssinn[s]“. In ihrer Konzentriertheit lässt es die Poesie zu, in nur wenigen Silben neue Denkräume herbeizuzaubern. Die Aufmerksamkeit richtet sich unterdessen allerdings weniger auf Reißbrettentwürfe besserer Gesellschaften wie im utopischen Roman à la Thomas Morus als vielmehr auf Initialzündungen. Die LeserInnen sollen die Offenheit der Gedichte als Appell zum eigenständigen Nachdenken über die Zukunft begreifen. „Gehe in den Garten und finde zur Abstraktion“, lesen wir etwa in einem Poem von Farhad Showghi. Wer Thills und Brauns faszinierende Zusammenstellung liest, wird spüren, wie Sprache unsere Welt verwandeln kann – zumindest in uns selbst, wo das gute Gedicht seinen Platz findet. Lesezeichen —„Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008-2018“; herausgegeben von. Michael Braun und Hans Thill; Verlag Das Wunderhorn; 320 Seiten; 26,80 Euro.

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