Kaiserslautern Rebellion und Streuselkuchen

91-90537636.jpg

„Das Unglück anderer Leute“ heißt der Debütroman der 28 Jahre alten Schriftstellerin Nele Pollatschek. Verlag und Leser feiern die lapidar-witzige Anti-Hommage an eine Kindheit unter den erschwerten Bedingungen einer unangepassten Patchworkfamilie als Glücksfall. Eine Begegnung.

Nele Pollatschek sitzt im Café Grano in Heidelberg. Am Kornmarkt. Offenes langes Haar. Ernster Blick. Goldfarbener Schal. Der blaue [edit: schwarze] V-Ausschnitt-Pulli hat ein kleines Loch im linken Ärmel. Ihr Laptop, aufgeklappt. Sie checkt E-Mails. Der Reporter ist offenbar zu spät dran. Sie schaut, na ja, abwägend. Sie ist 28, doziert und promoviert in Oxford, England, über – wie es immer heißt - „Das Böse in der Literatur“. Allerdings ist das stark vereinfachend ausgedrückt, wie sie andeutet – auf Nachfrage. In Würzburg hat sie auch einen Lehrauftrag. Ach, ja, zwischendurch lebt sie bei ihrem Freund im Odenwald. Alles! Jetzt! Eine dieser einschüchternd klugen weltläufigen jungen Frauen. Sie sagt jetzt, sie sei selbst überrascht gewesen. Plötzlich der Verlagsprospekt in der Hand. Nele Pollatschek hat den Haupttitel des nicht unerheblichen Galiani-Verlages in diesem Herbst geschrieben. In zwei Jahren nebenbei und in zwei durchgearbeiteten Wochen im Odenwald, wie sie erzählt. Der Vater, ein ZDF-Kulturjournalist, habe zum Ad -hoc-Lektorat und als Instanz anreisen müssen. „Das Unglück anderer Leute“ heißt ihr Debüt. Der Verleger Wolfgang Hörner schickt – was in seinem Fall ungewöhnlich ist – Hymnen herum. Kein Wunder, schon der erste Romansatz hat ja auch emotionale Wucht. „,Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie’“, sagte ich“, lautet er. „Ich“ ist übrigens Thene. „Sie“ deren Mutter, Astrid, die Autorin und Roman schon bald aus dem Weg räumen – nur um ihr so noch dringlichere Präsenz zu verschaffen. Ein Unfalltod, der Thene die Abschlussfeier in Oxford vermiest. Der Rest des Romans besteht aus einer Bestattungsmaßnahme und pointierter Retrospektive. Wenn man so will, ist Nele Pollatscheks Erstling so etwas wie das Gegenbuch zur seit Längerem akuten Bewegung der Mütter, die ihr Muttersein bereuen. Ein tragikomisches Buch über die Schwierigkeit des Kindseins unter besonderen Umständen. Die Auflehnung gegen die ach so unkonventionelle Elterngeneration. Der Bildungsroman einer meschuggenen ostdeutsch-jüdischen Patchwork-Familie. Desolate Idealisten, eine unorthodoxe wie praktisch veranlagte jüdische Oma, die dem Nudismus anhängt. Der Lichtblick von einem magisch talentierten Halbbruder. Die Väter sind natürlich abwesend, in plötzliche Orthodoxie oder das späte Schwulsein geflüchtet. Das Buch könnte auch ein Film sein – von Dani Levy („Alles auf Zucker“). Vor allem aber die Mutter nervt. Sie laboriert offensichtlich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit akutem außerfamiliär wirksamen Helfersyndrom. Und das alles wird thesenhaft – und auch lustig! – erzählt. Lakonisch und manchmal mit leicht ver-rückter Metaphorik. Von Thene, die sich dezidiert um Spießigkeit bemüht. Als revolutionärer Akt sozusagen. Sagen wir es so: Sie hat schon gewisse biografische Ähnlichkeiten mit der Autorin selbst. Stimmt das? Eine Frage. Nele Pollatschek schaut nur zurück. Also los. Wie Thene hat Nele in Oxford studiert. Nele ist wie Thene gerade noch so in der DDR geboren. Beide sind zur erzählten Zeit gleich alt, 25. Beide sind jüdisch. Nele lebt wie Thene zwischendurch im Odenwald. Isst gerne Streuselkuchen. Wer Nele Pollatschek googelt, findet einen Text über ihre Mutter, in der diese ziemlich romanhaft rüberkommt. Punk aus Ostdeutschland. Unangepasst aus Prinzip. Idealistin. Eine Fernsehreporterin. Astrid im Buch ist Werberin. Neles reale Mutter dafür höchst lebendig. Schwanger mit 45. Im Text über sie der verräterische Satz: „Meine Tochter Nele findet das nicht so gut.“ „Ach, sagt sie das?“, sagt diese im Café Grano, Süffisanz statt Streusel im Mundwinkel. Viel mehr nicht. Wir reden also lieber darüber, wie sie zum Schreiben gekommen ist. Reden über Schicksal, an das sie allerdings genauso wenig glaubt wie daran, dass Telefonanrufe Gedankenübertragung folgen. Sie sagt, sie sei extrem abergläubisch. Aber das mit dem Telefon sei wie das Allermeiste eine Frage der Statistik. Man denke nun mal ständig an irgendwelche Leute. Und dann rufe halt jemand darunter an. Schicksal des hochbegabten Kindes oder Statistik, mit zwölf ist Nele Pollatschek jedenfalls zufällig ihrem heutigen Verleger Wolfgang Hörner begegnet. Am See. Im Schlepptau des Vaters, der ein Grundstück verkaufen wollte. Sie schrieb damals an einem Krimi. Auf Englisch, obwohl sie in Frankfurt aufgewachsen ist und im Nordend auf eine deutsche Schule ging. Man kam ins Gespräch. Sie erfuhr, dass ein Verlag auch Übersetzter beschäftigt. Eine Offenbarung für sie damals. Er, Hörner, sagte, sie solle den Krimi mal schicken. Sie tat es – folgenlos. Vor einiger Zeit aber erinnerte sie sich an den Verleger. So kam das. Im Pressetext des Verlages steht, alle seien von ihrem unverlangt eingesendeten Manuskript sofort in den Bann gezogen worden, Lektoren, Vertriebsmitarbeiter, Freunde. Ansonsten hat Nele Pollatschek mit dem deutschsprachigen Literaturbetrieb sehr wenig am Hut. Viele der Protagonisten kennt sie gar nicht. Sie hat erst vor kurzem angefangen, sich abseits der Pflichtlektüre in die deutsche Literatur einzulesen. Sie sagt, Goethes Werther sei ja „echt ein Schwein“. Ein „Stalker“, der sich umbringe, um sein Opfer zu demütigen. Sie sagt, Thomas Hardy, ein viktorianischer Autor, dessen Herz separiert vom Restkörper bestattet wurde, habe Romane verfasst wie Fontanes „Effie Briest“, nur „für Menschen mit Emotionen“. Nele Pollatschek schreibt englisch, denkt englisch. Liest englisch. Lebt meist dort, wo englisch gesprochen wird. Als sie ihrer Oma von dem auf Deutsch geschriebenen Roman „Das Unglück anderer Leute“ erzählt habe, sei deren Antwort gewesen. „Aber das kannst du doch gar nicht so gut.“. Was soll man sagen? Vielleicht kommt allerdings gerade aus diesem leichten Fremdeln der andere Ton. Die Autoren, die sie beeinflusst haben, sind jedenfalls außer Adolf Hitler fast ausschließlich englischsprachig. Vor allem Kurt Vonnegut. Thomas Hardy eben. George Eliot, also eigentlich Mary Anne Evans (1819 bis 1880). Und Harry-Potter-Erfinderin J. K. Rowling. Hitler übrigens wegen didaktischer Schriften, die, so die Autorin, von der Überzeugung geleitet seien, dass frühe Prägungen zu lebenslanger Unfreiheit führen. Er habe Recht sagt sie, es sei nun mal schwer, was man in jüngeren Jahren gelernt habe, wieder loszuwerden. Thene im Roman würde jetzt sagen. „Ich darf das, ich bin Jüdin.“ Wir sprechen also über Determinierung. Ihr Roman ist von Kapitel A bis Kapitel Z erzählt. Auch für die „Helden“ folgt aus A B. Geburt als jüdisches Kind ostdeutsch geprägter Eltern, Mutter leicht verrückt. Das hat Konsequenzen. „Dann war ich tot“ heißt es zum Schluss, und es folgen noch ein paar Sätze, die im Zwischenreich von Himmel und Hölle agieren. Der Roman läuft auf einen hellsichtigen magischen Realismus hinaus. Nele Pollatschek erzählt, wie in ihrer Frankfurter Sponti-Schule mit besten Absichten dafür gesorgt wurde, dass sie nie vergisst, dass sie Jüdin ist. Und dass man in England glaube, Antisemitismus gebe es überhaupt nicht. Von ihrer Familie, deren Stammbaum in der Nazizeit drastisch gekappt worden sei. Von ihrer leisen Sehnsucht nach einer gesicherten Erwerbsbiografie. Ihren Schwierigkeiten mit so etwas wie Heimatgefühl. Sie bestellt einen zweiten Kaffee. Spricht davon, dass die Tragik der Ostdeutschen darin bestehe, dass sie ihren Kindern nie mehr ihre Heimat zeigen könnten, weil sie nicht mehr existiere. Sie erklärt, wie ihre Generation Idealismus privatisiert habe. Und verkleinert. Sie zum Beispiel kaufe, statt zu demonstrieren, lieber „fair trade“. Sie sagt: „Angepasstheit kann eine Form von Rebellion sein.“ Der Streuselkuchen ist aus im Café Grano. Nele Pollatschek aber kann jederzeit alle Register ziehen. Von Harry Potter zu David Hume und von der Zauberei zu versprengten katholischen Religionsphilosophen des 17. Jahrhunderts. Bevor wir zahlen, wird sie noch schnell gefragt, wie es weitergeht. Das zweite Buch sei doch immer das Schwerste, sondert der Reporter einen Allgemeinplatz. ab. Sie sagt: „Wieso?“ Sie habe schon damit angefangen. Der Verlag wolle es auf jeden Fall. Oder anders gefragt: „What’s the Problem?“ Termin Morgen, 19.30 Uhr, stellt Nele Pollatschek ihren Roman bei „Thalia“ in Kaiserslautern vor; Karten-Vorverkauf: 0631/ 36219814.

x