Rheinpfalz Die Welt kann warten

Städte stehen für harten Beat, für schnellen Rhythmus. Doch nicht alle: Manche entdecken Entschleunigung als Qualitätsmerkmal. Die weltweite Bewegung Cittáslow setzt auf bewusstes Leben, regionale Produkte und sozialen Zusammenhalt. Eine Entdeckungsreise.

Geschäftig geht es in den Adventstagen auch in Waldkirch zu, dem Schwarzwaldstädtchen, durch das die Elz rauscht und über dem der 1.243 Meter hohe Kandel thront. In der Langen Straße ist es laut. Alles muss raus, schreit ein Kaufhaus-Transparent und verspricht 70-prozentigen Rabatt auf alle Waren. Weiter vorne hupt ein Golf-Fahrer, weil ein Paketdienstler seine Einfahrt zugestellt hat. „Bin gleich weg“, ruft der Kurier und hebt beschwörend die Hände. Eile ohne Weile, wie in so vielen Städten in Deutschland. Dabei will Waldkirch ganz anders sein. „Wir sind auf der Suche nach Städten, in denen Menschen leben, die neugierig auf wiedergefundene Zeit sind“, steht im „Manifest Cittáslow“. Städte, „reich an Plätzen, Theatern, Geschäften, Cafés, Restaurants, Orten voller Geist, ursprünglichen Landschaften, faszinierender Handwerkskunst, wo der Mensch noch das Langsame anerkennt, den wohltuenden Rhythmus der Jahreszeiten, die Echtheit der Produkte und die Spontaneität der Bräuche genießt, den Geschmack und die Gesundheit achtet“. Große Worte. Gelingt das auch? Das pfälzische Deidesheim versucht es zumindest. 2009 hat es sich der weltweiten Cittáslow-Bewegung angeschlossen. Manfred Dörr hockt in der warmen Stube im historischen Rathaus und schaut hinab auf den Marktplatz. Der Bürgermeister erzählt, dass der Platz lange von den Freisitzen des „Deidesheimer Hofs“ zugestellt gewesen sei. Nun steht er wieder allen Bürgern und Gästen der kleinen Weinstadt zur Verfügung. An warmen Sommertagen besorgen sich die Deidesheimer in der Metzgerei Süss eine Wurstsemmel, setzen sich auf eine Bank, blättern in der Zeitung, lassen das Leben an sich vorüberziehen, erzählt Dörr. Er ist einer der wenigen Bürgermeister, deren Visitenkarte außer dem Stadtwappen eine Schnecke ziert. Diese Tiere lieben Weinberge, und Weinberge sind das Kapital der Stadt. Die Träger großer Titel wie Reichsrat von Buhl oder Geheimer Rat von Bassermann-Jordan haben den Namen Deidesheims in die weite Welt getragen und die große Welt nach Deidesheim geholt. Königspaare und Kremlherrscher vertilgten mit dem Einheitskanzler Helmut Kohl im „Deidesheimer Hof“ Saumagen oder Blutwurstravioli, und wie so etwas schmeckt, wollen Heerscharen von Gästen nun wissen: jährlich etwa 600.000 Tagestouristen und knapp 50.000 Übernachtungsgäste. Massentourismus kann aber der Schneckenbürgermeister gar nicht leiden. Deidesheim werbe nicht um Kaffeefahrer und Kegelclubs, auch Sonderzüge sind nicht im Prospekt zu finden. Die Stadt buhle um Urlauber, die auf regionale Produkte abfahren. 40 Wirtshäuser, vom Sternelokal bis zur Vereinsgaststätte, haben Leckeres aus der Region auf der Speisekarte, die „Kanne“ serviert Donnersberger Wollschwein und Damwild aus dem Pfälzerwald. Die kommunale Stiftung Bürgerhospital bietet mit ihrer Kurzzeitpflege Gästen eine Chance, gemeinsam mit ihren pflegebedürftigen Angehörigen ein paar schöne Tage an der Weinstraße zu verbringen. Was der Wein für Deidesheim ist, sind die Orgeln für Waldkirch. Dort pfeift es an allen Ecken und Enden, seit 200 Jahren bringen Instrumentenbauer Musik aus dem Schwarzwald in die Tanzsalons und auf Jahrmärkte. Eine im Orgelbauersaal ausgestellte Drehorgel zeigt in einer Abfolge von sieben Symbolen, wie sich die Übermittlung von Nachrichten immer mehr beschleunigt hat. Vom Marathonläufer der Antike steigert sich die Hetzjagd über Kutsche, Zug, Bus und Flugzeug bis zum Internet, das sekundenschnell eine Nachricht in entlegene Winkel schickt. Am Ende des Zyklus symbolisiert eine goldene Schnecke den Wert der Bedächtigkeit. Hinein „ins Glück“. So heißt ein Café in der Waldkircher Innenstadt, das Genuss mit Bedacht propagiert. Unter der schrägen Balkendecke verzehrt der Gast selbst gebackenen Kuchen, gern auch laktosefrei oder vegan. Ihre Milch geben glückliche Kühe, die auf satten Schwarzwaldwiesen weiden. Hier ist der Kunde König: Wem der handgebrühte Kaffee zu stark ist, der kann heißes Wasser nachordern, steht in der Karte. Wohlfühlmusik aus den 1970er-Jahren dudelt aus einem Kassettenrekorder, eine Frau sucht im grün gestrichenen Schränkchen aus Omas guter Stube die fair gehandelte Schokolade, die ihr neulich so gemundet hat. Der Kellner nimmt sich Zeit, schaut alle Regale durch, bevor er auf dem Smartphone die Ware beim Lieferanten nachordert. „You can get it if you really want“, schallt es aus dem Rekorder, „but you must try, try and try – you succeed at last.“ Erfolg scheint auch Waldkirchs Wirtschaft zu haben. Alteingesessene Einzelhändler können sich offenbar neben den Ladenketten behaupten. Der Edelsteinschleifer August Wintermantel mit seinen Feueropalen und Achaten zählt zu den Schmuckstücken der 20.000-Einwohner-Stadt. Auch Deidesheim lebt die Kleinteiligkeit. Zwei Bäcker, ein Metzger, zwei Banken, ein Juwelier und ein Friseur fallen dem Bürgermeister spontan ein. Nahe dem Stadtzentrum, aber jenseits der Bahnlinie, hat ein Verbrauchermarkt neulich erweitert. Doch was eine entschleunigte Stadt sein möchte, darf nicht alles zulassen. So bebaut Deidesheim den Haardtrand nicht. Das fördert das Kleinklima und erhält den Charakter der Landschaft. Seit Jahrzehnten hat die 3.700-Seelen-Gemeinde kein Neubaugebiet mehr erschlossen, demnächst sollen aber 20 bis 25 Bauplätze ausgewiesen werden, sagt der gebürtige Deidesheimer Dörr fast entschuldigend. Um junge Leute in der Heimat zu halten. Deidesheim mag Vorreiter einer Bewegung sein, ideologisch denkt man an der Weinstraße nicht. „Ich will mit diesem Konzept ja nicht die Menschen zu irgendwas zwingen“, beteuert der Bürgermeister. „Ich will in Deidesheim keinen Veggie-Day einführen. Cittáslow ist ein Leitbild, keine Zwangsbeglückung.“ Der Fortschritt kann eine Schnecke sein.

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