Kultur Deutsche Rechtschreibung: Interview mit Ludwig Eichinger

Die Regeln haben sich durchgesetzt, sagt Ludwig M. Eichinger.
Die Regeln haben sich durchgesetzt, sagt Ludwig M. Eichinger.

Wegen der heftigen Kritik an der Rechtschreibreform von 1996 war das amtliche Regelwerk 2006 erneut geändert worden. Seit 1. August 2007 ist die überarbeitete Rechtschreibreform in Deutschland verbindlich. Hat sie sich bewährt? Ein Interview mit Ludwig M. Eichinger. Der 67-jährige Professor Dr. Dr. ist Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, der die Entwicklung seit 2006 beobachtet.

Herr Eichinger, Kritik an der Reform gibt es noch immer. Zu Recht?

Eigentlich ist die Reform nun schon lange vorüber, die Festlegung von 2006, in der vor allem der übliche Schreibgebrauch wieder einen systematischeren Platz einnahm, hat sich als eine offenbar ganz gut handhabbare Regelung erwiesen. Da viele intensiver diskutierte Regelungen echte sprachliche Übergangsfälle betreffen, ist es nicht verwunderlich, dass sie immer einmal wieder Anlass zu Diskussion geben. Der Rat für deutsche Rechtschreibung, dem Sie angehören, beobachtet den Schreibgebrauch an Schulen. Was hat sich durchgesetzt? Unsere Beobachtungen – auch an aus der Schule stammenden Texten und aus entsprechenden Tests – zeigen, dass sich der allergrößte Teil der Regelungen praktisch durchgesetzt hat. Abweichungen betreffen einzelne Fälle, eigentlich nicht die systematischen Festlegungen. Irritationen gibt es immer wieder wegen verschiedener Versionen, zum Beispiel heißt es jetzt nicht mehr Leid tun, sondern leidtun – früher hieß es leid tun. Niemand weiß mehr Bescheid. Es ist sicher wahr, dass mehrfache Veränderung auf jeden Fall am Anfang für eine gewisse Verwirrung gesorgt hat. Nun ist Ihr Beispiel aber ein typischer der erwähnten Rand- und Übergangsfälle, da ganz unklar ist, welchen Status, die „Wortart“ oder ähnliches, eigentlich dieses Element leid hat. Das Substantiv Leid ist etwas anderes. Zur Vereinfachung sollte dienen, dass solche schwer zuzuordnenden Elemente jetzt generell „zusammengeschrieben“ werden. Es heißt, Verwirrung herrsche oft auch bei der vereinfachten Kommasetzung. Stimmt das? Es hat sich gezeigt, dass die praktische Freigabe der Kommasetzung in der ersten Zeit der Reform nicht den Bedürfnissen der Schreibenden entsprach. Daher sind jetzt bestimmte formale Regelungen wieder eingeführt und betont worden. Fehler, die gemacht werden, zeigen auch, dass in der jetzigen Darstellung im Regelwerk die systematischen Zusammenhänge nicht klar genug gefasst sind. An einer Verbesserung der Darstellung arbeitet der Rat gerade (ohne dass sich Regeln ändern würden). Gibt es große Unterschiede in den Schreibweisen in Schulbüchern, bei der Belletristik und Online-Texten? Bei belletristischen Texten stehen den Schreibenden alle Mittel auch für die stilistische und ästhetische Gestaltung zur Verfügung, und das wird auch genutzt. Das gilt auch für die Mittel der Orthografie, und damit haben solche Texte völlige Freiheit, wie sie mit der Rechtschreibung umgehen. Bei Online-Texten kommt es darauf an: Offiziellere Seiten, Online-Zeitungen und ähnliches, folgen im Prinzip den Regelungen des Regelwerks, die Interaktionsformen in den sozialen Medien haben hier ihre eigenen Gesetze – und zeigen natürlich auch manchmal die Grenzen der Regelbeherrschung auf. Bei SMS oder WhatsApp-Nachrichten dominiert aber dann das Chaos, oder? Die genannten Medientexte sind nicht zuletzt durch Schnelligkeit, durch Kürze – in gewissen Umfang – und durch einen Mix der medialen Formen gekennzeichnet, Emojis etwa. Das erklärt, dass zum Beispiel weithin auf Großschreibung, auch auf intensive Zeichensetzung, verzichtet wird, dass dann zum Beispiel auch Dialektwörter oder ähnliches geschrieben werden. Vieles davon ist in dem Kontext funktional nützlich und eigentlich nicht ein Feld für das Regelwerk. Was halten Sie von den Sonderregeln, denen manche Zeitungen folgen? Das heißt, dass man der Rechtschreibreform folgt, aber „Unsinnigkeiten“, wie es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hieß, nicht mitmacht? Bestimmte Zeitungen hatten immer schon Hausorthografien, die häufig die Wahl zwischen in der Regelung vorgesehenen Optionen betreffen, um ein konsistentes Bild in der eigenen Publikation zu erzeugen. Das ist logischerweise kein Problem. Auch die aus den genannten Distanzierungs- und Profilierungsgründen gewählten meist nicht mehr vorgesehenen Schreibungen sind im Hinblick auf die generellen Regelungen marginal, gewollte Signale in einem ansonsten regelkonformen Text, auch so etwas – von kompetenten Schreibern bewusst gewählte Signale – gehören zu einer erwachsenen Schreib- und Lese-Gesellschaft. Welchen Einfluss hat Ihrer Meinung nach der lockere Umgang mit Sprache in den sozialen Medien? Verdirbt er die Kinder und Jugendlichen? Wer nur eine einzelne Sprachform mit ihrer Schreibung beherrscht, ist in modernen Gesellschaften in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Das gilt in Sonderheit für eine Beschränkung auf informellere Varianten. Andererseits ist es vernünftig, situationsangemessen zu reagieren – so gesehen gehört eine gewisse Vertrautheit mit den medien- und gruppentypischen Stilen ebenfalls zur sozialen und sprachlichen Kompetenz der heute aufwachsenden jungen Leute. Oft wird in Debatten angemerkt, Schüler täten sich mit der Orthografie schwerer als vor der Reform. Stimmt das? Dazu gibt es eigentlich keine belastbaren Daten, da sich das Umfeld des Schreibens und Schreibenlernens in den letzten Jahrzehnten so wesentlich verändert hat. Die Neuregelung der Rechtschreibung ist nur einer der dabei zu bedenkenden und einzurechnenden Faktoren, über das relative Gewicht der Regelung und der anderen Faktoren lässt sich derzeit keine verlässliche Aussage machen. Wie bewerten Sie das phonetische Schreiben, das in einigen Bundesländern in den Grundschulen gelehrt wird? Als alleinige Methode ist es sicherlich nicht zu empfehlen, da – beim zu erreichenden Ziel – gilt: Eine Orthografie ist keine Lautschrift. Allerdings sind in bestimmten Bereichen die Laut-Buchstaben-Beziehungen des Deutschen vergleichsweise direkt, so dass ein kluger Einsatz der „guten“ Fälle sicher den Einstieg in das Lernen erleichtert. Sollen Grundschüler in Zukunft wieder Diktate schreiben? Es ist auf jeden Fall sinnvoll, Formen der Übung und Überprüfung der Rechtschreibfähigkeiten in der Grundschule vorzusehen, zu überlegen, wie geeignete Formen entsprechenden „Schreibens in Kontext“ heutzutage vernünftigerweise aussehen, ist sicher eine Aufgabe für methodisches Räsonnement. Vor Kurzem wurde das „ß“ in Großschreibung eingeführt, was nun auch eine Herausforderung für Computertastaturen ist. Warum entschied man sich nicht für die „SZ“-Schreibung? SZ ist in anderen benachbarten, etwa slawischen Sprachen so anders besetzt, dass es insbesondere im Namensbereich, wo das große „ß“ ja eine Rolle spielt, zu Interferenzen käme. Zum anderen ist die (ohnehin freigestellte) Häufigkeit der Nutzung des neuen Großbuchstabens beim normalen Schreiben sicher sehr gering, so dass ein Aufruf aus der „Symbol“-Liste gar nicht so inadäquat erscheint. Wie sehen Sie die Zukunft der Rechtschreibreform? Wie geht es weiter? Die Rechtschreibreform ist eigentlich schon seit Längerem Vergangenheit – und insbesondere für mehrere Schülergenerationen geradezu Geschichte. Es geht nun um die Beobachtung der kritischen Stellen der Schreibung des Deutschen – die logischerweise auch Diskussionspunkte der Regelung sind – und um die Reaktion auf Festlegungen, die sich im Laufe der Zeit im normgeprägten Gebrauch zeigen. So hat sich etwa das Verhältnis zur Schreibung von fremdwörtlichen Elementen im Deutschen ganz unabhängig von aller Reform in den letzten Jahrzehnten durch die zunehmende Vertrautheit mit fremden Schreibungen – nicht nur im Englischen – deutlich verändert. Der Rat für deutsche Rechtschreibung wird solche Entwicklungen zu bewerten und daran anschließend Empfehlungen auszusprechen haben, er wird auch immer wieder einmal sehen, ob sich manches in der Regelung klarer sagen lässt, wie das jetzt in der Schreibung von festen Adjektiv-Substantiv-Verbindungen geschehen ist, und wie sich ein Wörterverzeichnis gestalten lässt, das die Vorgaben und kritischen Stellen der Schreibung möglichst vollständig und durchsichtig dokumentiert.

Verschiedene Versionen verwirren. Genereller Tipp für schwer zuzuordnende Elemente: Zusammenschreiben.
Verschiedene Versionen verwirren. Genereller Tipp für schwer zuzuordnende Elemente: Zusammenschreiben.
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