Kultur Der Unbedingte

Der Komponist Michael Gielen hat im Laufe seiner langen Karriere neue Maßstäbe gesetzt. Heute wird der gebürtige Dresdner, der von 1986 bis 1999 das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg leitete, 90 Jahre alt.

Als Michael Gielen vor drei Jahren seinen endgültigen Rücktritt vom Dirigieren ankündigte, begründete er das mit dem Nachlassen seiner Sehkraft. Eine solche Konstellation hat im Falle dieses Künstlers auch eine merkwürdige Symbolkraft: Für ihn hängt alles an der Fähigkeit, die Dinge der Musik klaren Blickes anzuschauen und analytisch zu durchdringen. Zu seinem 90. Geburtstag darf man nach wie vor konstatieren, dass Gielen Strukturen zu lesen verstand wie kaum ein anderer – und muss, um Missverständnisse zu vermeiden, ganz schnell nachschieben, dass er nie am Punkt des „inneren Durchhörens“ halt gemacht hat. Das Eigentliche kam für ihn erst, wenn er, so gerüstet, die Fragen nach der Sinnerfülltheit der Klänge, ihrer kommunikativen Potenz zu stellen begann. Da machte es keinen Unterschied, ob es um Bach, Bartók, Bruckner oder Bernd Alois Zimmermann ging. Mit dessen „Soldaten“-Uraufführung 1965 in Köln vollbrachte der damals 38-Jährige – gegen ein lange widerstrebendes Orchester, skeptische Fachkollegen und ein hyperventilierendes Publikum – seine musikgeschichtlich wohl folgenreichste Einzelaktion. Doch sein Repertoire war viel größer und beschränkte sich längst nicht auf die Moderne. Gielen konnte sich mit gleicher Ernsthaftigkeit auch einer Belcanto-Oper wie Bellinis „Norma“ widmen. Und eben weil er nichts leicht und nebenbei machte, war dieser Künstler immer für Streit gut (und blieb es bei gelegentlichen Statements auch in seiner nach-aktiven Zeit, etwa indem er 2013 die SWR-Orchesterfusion „eine öffentlich-rechtliche Fehlentscheidung“ nannte). Wobei er, und das unterscheidet ihn von den fröhlichen Interpretations-Bescheidwissern dieser Welt, immer auch für selbstkritische Reflexionen und praktische Veränderungen offen geblieben ist. Die Basis seiner Beobachtungsschärfe wurde in Argentinien gelegt, wohin die Familie des Jungen wegen der nazistischen Rassenpolitik ins Exil gegangen war. Später, zurück in Europa, ragten aus dem fruchtbaren Zusammenwirken mit verschiedenen in- und ausländischen Ensembles zwei heraus: hinsichtlich des Musiktheaters die Frankfurter Zeit zwischen 1977 und 1987; und im Konzertsektor die Partnerschaft mit dem SWR-Sinfonieorchester seit 1986, die sich auch nach Gielens Rücktritt von der Chefposition kurz vor der Jahrtausendwende unvermindert fortsetzte und (anders als – leider – die Frankfurter Operndirigate) zu einer Menge von Tondokumenten geführt hat, die nun um das Jubiläum herum wieder neu erschlossen werden. Da lernt man in ganzer Fülle den strengen, tiefen Ernst eines Künstlers kennen, bei dem Sachlichkeit, gebändigt-pathosfreie Monumentalität und eine klangstrategisch weitblickende, immer die Zusammenhänge im Ohr behaltende und nicht auf schnell abgebrannte Effekt-Feuerwerke, sondern auf nachhaltige Analyse zielende Dramaturgie in den besten Fällen zu schnörkelloser Größe führen. „Unbedingt Musik“ hat der Dirigent seine Lebenserinnerungen betitelt. Sie hätten wohl auch, mit einem „e“ zusätzlich, „Unbedingte Musik“ heißen können: architektonisch empfunden, würdevoll, oft herb und kompromisslos gegenüber eingegleisten Hörerwartungen, aber manchmal auch bezaubernd poetisch geöffnet – ein Geschenk in Zeiten um sich greifender unverbindlicher Beliebigkeit.

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