Kultur Das süße Sterben

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Selbst die schönsten Filme der letzten Tage in Cannes hatten einen Schockeffekt, das ist der neue Trend. Bei „Youth“ von Paolo Sorrentino ist es das ungeschminkte faltige Gesicht einer alten Diva, die sich lieber für viel Geld an eine brutale Fernsehserie verkauft, als noch einmal einen kunstvollen Kinofilm zu drehen.

Fred Ballinger (Michael Caine, 82), Komponist und Dirigent im Ruhestand, lehnt das Ansinnen der Queen ab, noch einmal sein berühmtestes Werk zu dirigieren. Stattdessen badet die Hauptfigur von „Youth“ lieber im Kurhotel in den Schweizer Alpen mit seinem alten Freund Mick (Harvey Keitel, 76), dem US-Autorenfilmer. Sie sinnieren über die gute alte Zeit und geben einander den täglichen Gemütszustand durch die Zahl ihrer Urintropfen preis. Fred weiß, dass seine Kultur, die klassische Musik, längst untergegangen ist. Aber wenn er in einem Wachtraum auf einer Wiese steht, hört er, wie sich die Glocken der Kühe zu einer Sinfonie verdichten. Mick dagegen will noch einen letzten Film machen, das Skript ist fertig. Er wartet nur noch auf die Zusage von Brenda, der Diva (Jane Fonda, 79), während vor ihm im Pool ein fett gewordener Diego Maradona mit rückenfüllendem Karl-Marx-Tattoo seine Runden zieht. Die Gespräche der alten Männer erinnern an die großen Kurhotelfilme „Letztes Jahr in Marienbad“ und „Der Zauberberg“. Wenn Fred spazieren geht, mit Brille und Hütchen, sieht er aus wie der alte Federico Fellini, auf dessen „Das süße Leben“ und „8 1/2“ Sorrentino ebenso zurückblickt wie auf das Autorenkino: Zwei aus Micks Crew haben die Optik der Coen-Brüder (den Jury-Präsidenten in Cannes). Die Referenzen an die Filmgeschichte sind mannigfaltig, tauchen aus dem Nichts auf, sorgen für unterschwelligen Humor, und sind mit unfassbarer Perfektion und Eleganz inszeniert. Der Schock kommt durch Brenda ins Spiel. Sie lässt sich lieber in einer Serie malträtieren und verkörpert den Zeitgeist, der viele Regisseure weg vom Kino hin zu den Fernsehserien treibt (Sorrentino dreht demnächst eine Fernsehserie). Natürlich gibt es noch mehr Gesellschaftskritik, etwa wenn Miss Universum nackt vor Fred und Mick in den Pool gleitet – was zählt, ist nur noch der äußere Schein, nicht die wahre Kultur, die mit der postromantischen Musik von David Lang als Schleier der Vergangenheit stets präsent ist. Sorrentino (44), der schon eine Palme hat, ist auf dem Höhepunkt seiner Kunst. „Youth“ ist der ultimative Kick. Noch einer rechnet mit der Kinokultur seiner Heimat ab: Hou Hsiao-Hsien (68) aus China. In „The Assassin“ (Die Mörderin) verbindet er eine mythische Geschichte aus dem neunten Jahrhundert mit der Trivialkultur der Schwertkunst-Blockbuster, in denen Kämpfer durch die Luft fliegen. Abrupt gleitet die in schwarz-weiß gehaltene Vorgeschichte – eine Herrscherstochter wird verstoßen – in die farbige Haupthandlung: Die zur großen Schwertkämpferin ausgebildete junge Frau kommt zurück, um den Tyrannen zu töten, der den Frieden stört. Landschaftsbilder von ungewöhnlicher Schönheit, die so lange ohne Kamerabewegung stehen bleiben, dass man denkt, man hat ein Gemälde vor sich, würde nicht langsam eine Person durchs Bild schreiten, geben der alten Rachegeschichte ebenso eine neue Dimension wie eine vollkommen neue Choreografie. Die Schwertkämpferin, ganz in Schwarz, enthauptet mit einem Schlag einen Gegner, der auf einem Pferd sitzt, ohne dass das Pferd auch nur wiehert, denn ihre Bewegungen sind so schnell, dass man mehr erahnt als sieht. Wurden bisher im Martial-Arts-Kino die tollkühnen Luftflüge mit atemberaubend schneller Schnittfolge komponiert, sind sie hier so extrem zurückgenommen wie noch nie. Hinzu kommen Zitate der asiatischen Meister: Soldaten mit Bannern wie bei Kurosawa, Kämpferinnen wie bei King Hu, anmutige Herrscher wie bei Zhang Yimou. Während die französischen Sozialdramen eher im Mittelmaß versanden, sorgt der Kanadier Denis Villeneuve (47) mit „Sicario“ für spannendes Actionkino. Im Kampf gegen die Drogendealer in Mexiko fordert eine US-Antidrogeneinheit, die ein Kampfveteran (Josh Brolin) leitet, eine junge FBI-Agentin (Emily Blunt) zur Unterstützung an. Im Lauf der Operation durchschaut sie, dass der Berater des Trupps (Benico Del Toro, so zurückhaltend zwiespältig, dass er den Darstellerpreis verdient hat) ein doppeltes Spiel treibt. Sie kann nicht begreifen, dass alle sie vom Kampfherd fernhalten. Schließlich muss sie einsehen, dass man sie als Frau und damit körperlich schwächstes Glied in dieser rauen Männerwelt nur auswählte, um sie als juristisches Feigenblatt zu benutzen. Ein so beängstigender Blick auf die politischen Machenschaften im Genrekino ist neu und vielversprechend. Zum Weiterlesen www.rheinpfalz.de/dossier/e-mail-aus-cannes/

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