Rheinpfalz Gläubige in Sack und Asche

Das Projekt des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski, die zehn Gebote in Form von Filmerzählungen darzubieten, war ein Klacks im Vergleich zu dem, was das Buero für angewandten Realismus nun zeigt. „Fünfundneunzig“ ist die Verfilmung aller 95 Thesen Martin Luthers und der Beitrag der Ludwigshafener Künstlergruppe zum Reformationsjubiläum.

Gleich die erste bald 500 Jahre alte These rührt wie ein Donnerschlag: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ,Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen’“, heißt es da, „wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Wer schon kann heutzutage in dieser vergnügungssüchtigen, wohlstandsgesättigten Industriegesellschaft noch etwas mit solch einem Aufruf zu Askese und zerknirschtem Schuldeinbekenntnis anfangen? Und bei einem Donnerschlag bleibt es nicht. Luthers gesamtes Papier atmet diesen Geist vom Leben als Leiden, aus dem erst der Tod mit der Hoffnung auf Erlösung im Jenseits führt. Nach der Lektüre der Thesen versteht man jedenfalls besser, warum der Karfreitag bei den Protestanten der höchste Feiertag ist und nicht, wie bei den Katholiken, das Lebensfreude verbreitende Auferstehungsfest zu Ostern. Die Filmemacher vom Buero jedenfalls haben durch ihre Beschäftigung mit den Thesen erkannt, warum sie die Ersten gewesen sind, die diesen herben Stoff filmisch aufgegriffen haben, sagte Projektleiter Hötsch Höhle zur Einführung bei der Welturaufführung im Ludwigshafener Kulturzentrum Das Haus. „Fünfundneunzig“ besteht aus 95 kommentarlos aneinandergereihten und durchnummerierten kurzen Filmclips, ohne Ton, aber in Farbe. Dem asketischen Geist der Vorlage wird der etwa 60-minütige Stummfilm gerecht, indem er als Lowest-Budget-Production realisiert wurde. Drehort war das ehemalige Umspannwerk in der Raschigstraße mit Umgebung. Als Kostüme dienten Kaffeesäcke als Büßergewänder oder eine Tiara aus Goldpapier, die auch schon einmal von einer Päpstin, dargestellt von Ricarda Walter, getragen wird. Helmut van der Buchholz als Gottvater ist an der weißen Langhaarperücke zu erkennen. Hötsch Höhle als Ablasshändler ist wie stets schwarz gekleidet und hat sich, um den mafiösen Eindruck noch zu verstärken, eine Sonnenbrille aufgesetzt. Luthers Verdammnis der römischen Kurie etwa wird durch das Verbrennen einer Ansichtskarte, die den Petersdom zeigt, illustriert. Oft haben die Filmemacher einen bewundernswerten Erfindungsgeist bewiesen, etwa wenn sie die „scharfsinnigen Fragen der Laien“ in These 81 durch Rasierklingen versinnbildlichen. Für jemanden, der die Thesen nicht in- und auswendig kennt, ist es nicht leicht, alle Bilder zu entschlüsseln. Deshalb bekommt jeder Zuschauer ein Blatt mit allen Thesen in die Hand gedrückt. Es ist zu hoffen, dass das Buero den Film nochmals vorführen wird. Gut passen würde er zum Buß- und Bettag, zum Karfreitag oder auch schon zum Reformationstag, wenn die evangelische Kirche den Jahrestag des Thesenanschlags begehen wird.

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