Speyer Gefangen im Alter

Versuchskaninchen: Katja Edelmann im Altersanzug in Begleitung von Krankenpflegerin Julia Sytcenko.
Versuchskaninchen: Katja Edelmann im Altersanzug in Begleitung von Krankenpflegerin Julia Sytcenko.

Das St.-Vincentius-Krankenhaus nutzt einen neuen Alterssimulationsanzug für die Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften. Eine RHEINPFALZ-Reporterin hat die 20 Kilogramm schweren Accessoires als Selbstexperiment anprobiert.

Schwer. Lahm. In den letzten Minuten bin ich um 30, 40 Jahre gealtert. Station 9, Vincentius-Krankenhaus Speyer. Ich stehe gekrümmt, atme schwer. Wie bei einer einseitigen Lähmung hängt der linke Arm wie Blei an mir, der rechte liegt eingeengt und angewinkelt in einer Schlaufe. Das rechte Bein ist versteift, ich schleppe es wie einen Fremdkörper mit. Links halte ich meinen Gehstock fest, mit der Kraft, die meine Finger noch haben. Wackelig stehe ich da. Wenn mich jetzt jemand anrempelt, verliere ich das Gleichgewicht. Ich trage den Alterssimulationsanzug Gert (gerontologischer Testanzug), der laut Hersteller das „Erlebnis Alter schafft“. Die Nachwuchs-Pflegekräfte lernen den Anzug in der Ausbildung kennen. 2018 sollen ihn auch ausgelernte Pflegekräfte ausprobieren können. Knapp 3000 Euro kostet das Modell mit Gewichtsweste, beschwerenden Bandagen und Manschetten für die Gelenke, Überschuhen, Handschuhen, Kopfhörern und gar einem Gerät, das Alterszittern simuliert. Sechs verschiedene Simulationsbrillen machen erlebbar, wie viel ein Patient mit Grauem oder Grünem Star oder einer Netzhautablösung noch sehen kann. „Wir laufen jetzt mal“, sagt Schwester Julia Sytcenko. Sie stützt mich auf der linken Seite. Rechts an der Wand gibt es einen Handlauf. Ich bewege mich mit dem steifen Bein langsam den ebenerdigen Flur entlang. Meine Sicht ist getrübt, begrenzt wie durch ein Fenster, teilweise sehe ich nur Ausschnitte. Weite und Höhe des Flures sind schwer einzuschätzen, Stolperfallen lauern. Das einfache Laufen braucht Konzentration. Wo müssen wir hin? Rechts? Ich suche Orientierung. Die Ohren geben keine mehr. Ein Mann, der uns mit interessiertem Blick mustert, sagt etwas. Ich verstehe ihn nicht. Er wiederholt es, sagt etwas wie „Gesicht“. Nach zwei Nachfragen schreit er fast zurück. Er meinte die „Sicht“. „Sie sprechen sehr laut“, sagt Schwester Julia. Wirklich? Die anderen sprechen so leise. Ich höre nur meine Stimme. Den Gedanken, wie ich mich bücken könnte, um etwas aufzuheben, verwerfe ich schnell. Ich käme nicht hinunter. Jetzt kommt die Treppe. Sehen Sie die Stufen?“, fragt Schwester Julia. Meine Begleiterin nimmt mir den Stock ab. „Versuchen Sie es mal ohne.“ Mein Fuß sucht den Stufenbeginn und das steife Bein ziehe ich hinterher. Links ziehe ich mich am Geländer hoch, rechts muss die Schwester stützen. Mit der eingeschränkten Sicht versuche ich, die Umrisse jeder Stufe zu erfassen. Wahnsinn. Ich bin nur auf das Hochsteigen konzentriert. Für 14 Stufen brauche ich zweieinhalb Minuten, schweißgebadet, außer Puste. Auf dem Rückweg schlackern meine Knie. Schwester Julia winkt mich zu einer Sitzbank üblicher Höhe, also niedrig. Mein von mir gestrecktes Bein lässt keine Beugung zu. Ich lehne mich stehend nach hinten, der Fallmoment reißt mich irgendwann willkürlich in den Sitz. Ich will sitzen bleiben. Zum Hochkommen stütze ich mich rechts auf die Armlehne, die Schwester zieht mich mit hoch. „Eigentlich sind Sie ja rechts gelähmt.“ Ach ja, ich hätte rechts keine Kraft für die Armlehne und würde mir vorher eine andere Bank suchen müssen. Oder Hilfe. Hoffentlich gäbe es die. Nach 45 Minuten befreit mich die Schwester vom Gert. Ich bin nassgeschwitzt, aber streife Unbeweglichkeit, Langsamkeit, Vorsicht wieder ab. Sie haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen: mehr Verständnis und Respekt vor älteren Menschen, wenn sie an der Kasse länger Münzen suchen oder mit viel Vorlauf bei einem Arzttermin warten.

Ihre News direkt zur Hand
Greifen Sie auf all unsere Artikel direkt über unsere neue App zu.
Via WhatsApp aktuell bleiben
x