Pirmasens Bewegte Bilder als Gesamtkunstwerk

Szene aus Betina Kuntzschs „Schleifentage“.
Szene aus Betina Kuntzschs »Schleifentage«.

Die „Schleifentage“ im Pirmasenser Forum Alte Post waren der Schriftstellerin und Dada-Mitbegründerin Emmy Hennings gewidmet. Das Hugo-Ball-Kabinett wurde im Rahmen dieser Veranstaltung zur Bühne, die Empore zum Zuschauerraum – lang anhaltender Applaus belohnte am Sonntag diese mutige Entscheidung. Die Berliner Künstlerin und Filmemacherin Betina Kuntzsch stellte mit ihrem Kurzfilm „Schleifentage“ Emmy Ball-Hennings in den Fokus ihres interessanten Kunstwerks.

Grundlage des Films bildeten 35mm-Schleifenfilme für die Laterna Magica, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Massenmedium üblich war. Dieser Vorläufer des Stummfilms unterhielt auf Jahrmärkten und in Varietétheatern das Publikum mit handgemalten oder in Stempeltechnik aufgetragenen Objekten, die in ihrer Einfachheit sehr an Comicfiguren erinnern. Durch die Schleifentechnik erwachten Menschen, Tiere, ja sogar Pflanzen zum Leben. Betina Kuntzsch digitalisierte diese alten Varieté-Schleifen Bild für Bild einschließlich der durch Abnutzung entstandenen Kratzer und Risse und setzte dann die einzelnen Bilder zu bewegten Szenen zusammen. Dadurch entwickelten sich bemerkenswerte Bildsequenzen, die mit ihrer ausgefallenen Ästhetik einen eigentümlichen Charme versprühten. Der optische Genuss wurde durch besondere akustische Mittel erweitert. Joachim Gies entlockte seinem Saxophon die wunderlichsten Geräusche, sodass die Bildfiguren aus ihrer zweidimensionalen Sphäre gleichsam zu lebenden Wesen mutierten. Somit war eine Lebenswelt des frühen 20. Jahrhunderts entstanden, die allein schon in ihrer natürlichen Fremdheit ein Eintauchen in diese Vergangenheit provozierte. Doch erst durch die eingelesenen Textfragmente aus Emmy Ball-Hennings autobiografischem Roman „Das Brandmal. Ein Tagebuch“ erhält das Kunstwerk seine beeindruckende Tiefe. Die spätere Ehefrau des Pirmasenser Künstlers Hugo Ball lässt in ihrem Werk, das 1920 erschien, ihr bis dahin hoch interessantes, aber auch problematisches Leben Revue passieren. Bild, Ton und Lesung unterstreichen die tagtägliche Wiederholung prekärer Lebenssituationen, den Abschleifungsprozess und die zunehmende Gefährdung des Daseins durch Kratzer und Risse in herausragender Deutlichkeit. Betina Kuntzsch präsentierte ihr Kunstwerk so voller Empathie für Emmy Ball-Hennings, dass der Wunsch, sich auch mit ihrem literarischen Werk zu beschäftigen, wieder einmal geweckt wurde. „Schleifentage“ im Hugo-Ball-Kabinett - für diese Veranstaltung konnte kein besserer Raum gefunden werden. Zu dieser Entscheidung ist der Kuratorin Cecile Prinz zu danken. Vielleicht war dieser Abend ein Einstieg in eine Veranstaltungsreihe zu „Dada-affinen“ Themen.

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