Neustadt Tonnenschwere Stahlkolosse für die Welt

Maschinen und Stahlkonstruktionen „bis hin zu den größten Dimensionen“ wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Guilleaume-
Maschinen und Stahlkonstruktionen »bis hin zu den größten Dimensionen« wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Guilleaume-Werken im Naulott gefertigt. Dieses Foto zeigt die Maschinenbau-Abteilung und stammt ebenso wie das unten links aus einer Festschrift von 1902.

«Neustadt». Rein gar nichts erinnert heute noch daran, dass im beschaulichen Neustadt einmal eine Fabrik bestand, die gigantische Dampfkessel, komplette Bahnanlagen, Eisenbrücken und Verlade- und Transporteinrichtungen „bis hin zu den größten Dimensionen“ fertigte, wie es 1908 in einer Reklame hieß. Auch der Name des Unternehmens sagt vermutlich kaum noch jemandem etwas: Maschinen- und Dampfkesselfabrik Guilleaume-Werke.

Auch im Neustadter Stadtarchiv sind die Informationen zu dieser Firma ziemlich spärlich, doch haben die beharrlichen Recherchen des Teams um Birgit Noack trotzdem einige erstaunliche Erkenntnisse erbracht. Hauptquelle ist dabei eine Festschrift des Schützenvereins Neustadt aus dem Jahr 1902, die den Guilleaume-Werken unter der Überschrift „Neustadts Industrie“ eine Sonderseite mit mehreren Bildern widmete. Demnach waren die Werke, die ihren Sitz im Naulott hatten, wohl Ende des 19. Jahrhunderts „aus der früher in bescheidenem Umfang hier betriebenen Dampfkesselfabrik von L. Burlet hervorgegangen“ – wo diese angesiedelt war, ist nicht bekannt – und 1897 „nach Reorganisation ihrer Leitung“ in eine völlig neu errichtete Fabrik in der Lachener Straße verlegt worden. Aus einem Adressbuch aus dieser Zeit geht hervor, dass die Anschrift Lachener Straße 27 lautete. Was aus heutiger Sicht aber vor allem überrascht, sind Art und Größe der Produkte, die hier erzeugt und wohl nicht nur im Deutschen Reich, sondern in ganz Europa und sogar darüber hinaus („in zahlreichen überseeischen Ländern“) vertrieben wurden: Neben dem Hauptfabrikationszweig, dem Dampfkesselbau, betrieb die Firma den Angaben in der Festschrift zufolge „die Herstellung von Transportanlagen nach amerikanischem System, Lösch- und Ladevorrichtungen für Massengüter aller Art, Bekohlungsanlagen für Lokomotiven und Kesselhäuser, Separationsanlagen für Kohlen und Erze, Krähne (!), Aufzüge, Getreidespeicher und Eisenkonstruktionen aller Art“. Ferner fertigte sie komplette Bahnanlagen für industrielle, land- und forstwirtschaftliche Zwecke und Transportwagen jeder Konstruktion und Größe. In der eingangs erwähnten Anzeige werden außerdem noch einmal ausdrücklich „Spezialkrane für Hüttenwerke“ genannt – insgesamt also eine Produktpalette, die man eher im Ruhrgebiet als in der weinseligen Pfalz erwarten würde. Geradezu zu Berühmtheit in Fachkreisen scheint das Neustadter Unternehmen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aber durch einen von ihm entwickelten und patentierten Dampfkessel-Typ gekommen zu sein, den „Guilleaume-Kessel“. Dabei handelte es sich, wie im 1908 erschienenen Fachbuch „Der moderne Dampfkessel der Kriegs- und Handelsschiffe“ von Max Dietrich nachzulesen ist, um einen Wasserrohrkessel, in dem vollständig trockener Dampf erzeugt werden sollte. Stellt man in Rechnung, welche Bedeutung die Dampfkraft in dieser Zeit im zivilen wie militärischen Bereich besaß, kann man eine Vorstellung davon gewinnen, mit was für einem Kaliber von Unternehmen man es hier zu tun hat. Dies kontrastiert auf merkwürdige Weise mit dem Umstand, dass alle Informationen über das Innenleben dieser Firma heute fast wie ausradiert erscheinen: Weder die Zahl der Beschäftigten noch die Besitzverhältnisse sind bekannt. Denkbar wäre, dass ein Bezug zu der bekannten Kölner Stahlindustriellenfamilie Guilleaume („Felten & Guilleaume“) bestand, doch um ein Zweigwerk im engeren Sinne scheint es sich wohl nicht gehandelt zu haben. Unternehmensform war jedenfalls die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Auch das Ende der Firma bleibt völlig rätselhaft: 1911/12 wird sie noch im Adressbuch der Stadt Neustadt geführt, 1914/15 ist sie daraus plötzlich sang- und klanglos verschwunden. Das Fabrikgelände in der Lachener Straße muss später – 1922 – zumindest teilweise von der Färbereimaschinenfabrik Obermaier übernommen worden sein (siehe Teil 18 dieser Serie). Vermutlich stammte auch der Gleisanschluss, der im Zusammenhang mit Obermaier genannt wird, bereits von den Guilleaume-Werken, die für ihre tonnenschweren Stahlkolosse natürlich auch die entsprechende Logistik benötigten. So gebührt dem Neustadter Stadtarchiv das Verdienst, auf ein bislang nahezu unbekanntes Kapitel der Neustadter Wirtschaftsgeschichte gestoßen zu sein, auch wenn immer noch viele Fragen offen bleiben. Ist heute vom industriellen Erbe der Weinstraßen-Metropole die Rede, wird meist an erster Stelle die „Internationale Baumaschinen-Fabrik“ (IBAG) genannt, an die die eindrucksvolle Fabrikhalle in Branchweiler erinnert, die gerade einer neuen Nutzung zugeführt wird. Die IBAG wurde allerdings erst 1911 gegründet. Für das Jahrzehnt davor scheint der Titel des industriellen Primus dagegen den heute vergessenen Guilleaume-Werken gebührt zu haben. Die Schützenfestschrift lässt daran keinen Zweifel. Sie nennt die Werke „das bedeutendste aller industriellen Etablissements Neustadts“ und spricht davon, dass sie „sich in der verhältnismäßig kurzen Zeit ihres Bestehens einen Weltruf zu verschaffen gewusst hat“.

Blick in die Dampfkessel-Montagehalle.
Blick in die Dampfkessel-Montagehalle.
Werbeschrift für ein Produkt der Eisenbahnabteilung.
Werbeschrift für ein Produkt der Eisenbahnabteilung.
x