Neustadt Nah am Wasser gebaut

Splendid Isolation: Die Tuchfabrik Oehlert in den 1950er Jahren von der Wolfsburg aus gesehen.
Splendid Isolation: Die Tuchfabrik Oehlert in den 1950er Jahren von der Wolfsburg aus gesehen.

«Neustadt». Die Keimzelle der Neustadter Industrie liegt im Schöntal, und der Grund dafür ist ganz klar: Die Wasserkraft des damals noch etwas kräftiger strömenden Speyerbachs und seiner Zuflüsse lieferte, lange bevor Kohle, Öl oder Strom zur Verfügung standen, die nötige Energie für Mühlen, Hammer- und Sägewerke und später vor allem die Papier- und Tuchfabriken der sogenannten „Talgrafen“. Eines der wichtigsten dieser Unternehmen war die Tuchfabrik Oehlert am Ausgang des Kaltenbrunner Tals.

Die Dokumente, Zeitzeugenberichte und historischen Studien, die dem Neustadter Stadtarchiv zu dieser Firma vorliegen, sind ungewöhnlich detailliert: Demnach hatte bereits um 1800 auf dem Gelände der späteren Tuchfabrik ein Sägewerk bestanden, das in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Neustadter Bankier Louis Dacqué erworben und in eine Papiermühle umgewandelt worden war. Für diese wurde sogar 1829 ein alten Ansichten zufolge recht markanter Aquädukt über die heutige Schöntalstraße hinweg errichtet, der das Wasser des Sauloogbaches in die Mühle leitete, die damit neben dem Kaltenbrunner Bach noch über einen zweiten Wasserlieferanten verfügte. Beide Zuflüsse nutzte dann auch die neue Tuchfabrik weiter, die der aus einer alten Lambrechter Tuchmacherfamilie stammende Johann Jacob Oehlert 1843 auf dem Gelände der Papiermühle einrichtete. Die Oehlerts waren Nachfahren jener calvinistischen Wallonen, die im 17. Jahrhundert als Glaubensflüchtlinge über Schönau bei Heidelberg in die Pfalz eingewandert waren und sich als Tuchmacher in Lambrecht niedergelassen hatten. Ahnherr der Familie war ein erstmals 1625 genannter Julius Elard, wie sich seine Nachfahrin Ingrid Oehlert 2016 in einem Vortrag in der Villa Böhm erinnerte. Das von strengen Zunftgesetzen geregelte Handwerk vererbte sich bei den Elards, aus denen im Laufe der Zeit durch Eindeutschung die Oehlerts wurden, über viele Generationen vom Vater auf den Sohn, bis die französischen Revolutionsheere 1792 die Gewerbefreiheit brachten und Sebastian Oehlert (1764-1814) die Gelegenheit nutzte, seinen Betrieb zu vergrößern. Erst sein Sohn Johann Jacob (1803-1874) wagte dann aber den entscheidenden Schritt hin zur industriellen Tuchproduktion und verlegte den Standort nach Neustadt. Was folgte, war über mehr als 100 Jahre eine ökonomische Erfolgsgeschichte, die sich bis heute architektonisch in der in der Talstraße erhaltenen großbürgerlichen Fabrikanten-Villa der Oehlerts niederschlägt, die auch als Eilhardshof bekannt ist. Die Oehlerts gehörten zur Neustadter High Society. Ihre Wolltuchfabrik, die sich schon früh auf Uniformstoffe spezialisierte, wurde über drei Generationen hinweg ständig vergrößert, modernisiert und zu einem angesehenen Unternehmen entwickelt, in dem noch 1953 laut einem RHEINPFALZ-Bericht über 400 Mitarbeiter Wolle aus Südamerika, Australien, Südafrika und England verarbeiteten. Dass die Firma als Uniform-Fabrik natürlich besonders in jenen Zeiten florierte, in denen das Militärische hoch im Kurs stand, versteht sich von selbst. So riesig, wie sie 1941 auf einem Briefkopf dargestellt ist, der sich ganz unkommentiert auch in der Neustadter Denkmaltopographie wiederfindet, war sie allerdings nie. Davon kann man sich glücklicherweise bis heute direkt vor Ort überzeugen, denn auch wenn der Betrieb bereits 1962 eingestellt wurde, die Gebäude bestehen bis heute weiter als „historisch gewachsene Industrieanlage mit charakteristischer Erscheinung aufgrund anspruchsvoller Gestaltung der Einzelteile“, wie es in der Denkmaltopographie heißt. Der Komplex um die ab 1906 errichtete Fabrikationshalle mit ihrem markanten Eckturm wurde zunächst bis 1998 von der Bundeswehr als Mobilmachungsdepot genutzt. Zeitweise befand sich hier auch ein Teil des Kreiswehrersatzamtes. 2001 kaufte dann ein Investor die Liegenschaft vom Bund, scheiterte aber mit seinen Plänen, hier Lofts, Büros, Gewerbe- und Gastronomieflächen einzurichten. Wesentlich erfolgreicher war da eine andere Immobiliengesellschaft, die die ehemalige Fabrik 2011 bei der Zwangsversteigerung erwarb und hier für 13 Millionen Euro 56 hochwertige Wohnungen, die sogenannten Schöntal-Lofts, einrichtete. Längst spielt dabei das Wasser in puncto Energieversorgung keine Rolle mehr, obwohl natürliche, dezentrale Anlagen inzwischen ja langsam wieder in Mode kommen. Auch die Tuchfabrik Oehlert hatte sich schnell von diesen Ursprüngen gelöst. Zwar war 1850 noch eine von den Zeitgenossen als Hightech-Anlage bewunderte Wasserturbine in Gang gesetzt worden, angeblich die erste ihrer Art in Süddeutschland, aber es dauerte nicht lange, und die Leistung reichte nicht mehr aus, um alle Spinnmaschinen und Webstühle am Laufen zu halten – auch, weil mehrere starke Quellen inzwischen nach Neustadt und Hambach umgeleitet worden waren. Schon 1856 begann deshalb der Umstieg auf die Dampfkraft, der sich auch im Bau eines Kohlebunkers und eines weithin sichtbaren Schornsteins ausdrückte. Der markante Aquädukt, bis dahin das Ziel vieler Sonntagsausflügler, wurde 1902 auf Drängen der Stadt abgebrochen, weil die Pfeiler die Durchfahrt auf der Schöntalstraße behinderten.

Johann Jacob Oehlert (1803-1874), Sohn einer alten Lambrechter Tuchmacherfamilie, gründete 1843 die Firma im Schöntal.
Johann Jacob Oehlert (1803-1874), Sohn einer alten Lambrechter Tuchmacherfamilie, gründete 1843 die Firma im Schöntal.
Gewaltiger Energiebedarf: das große Schwungrad aus dem Kraftwerk der Tuchfabrik, das 1960 abgerissen wurde.
Gewaltiger Energiebedarf: das große Schwungrad aus dem Kraftwerk der Tuchfabrik, das 1960 abgerissen wurde.
Vorläufer der Tuchfabrik war die Dacqué’sche Papiermühle, die über einen Aquädukt (Bildmitte) mit Wasser versorgt wurde.
Vorläufer der Tuchfabrik war die Dacqué’sche Papiermühle, die über einen Aquädukt (Bildmitte) mit Wasser versorgt wurde.
x