Ludwigshafen Flüchtige Momente

Oben und unten in furiosen Wechseln: Michael Conte als das Biest und Claire Lonchampt als Bella.
Oben und unten in furiosen Wechseln: Michael Conte als das Biest und Claire Lonchampt als Bella.

Eines der seltenen Tanz-Ereignisse, zu denen sich das Ludwigshafener Theater im Pfalzbau die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz leistet, war jetzt „La Belle et la Bête“ (Die Schöne und das Biest). Das vielleicht französischste aller Märchen wurde von Tierry Malandain so neoklassisch edel wie zeitgenössisch individuell zubereitet und vom Malandain Ballet Biarritz zu sinfonischem Tschaikowsky-Klang der Staatsphilharmonie prachtvoll getanzt.

Zu Tschaikowsky fallen einem spontan dessen Ballettmusiken ein: Schwanensee, Dornröschen, Der Nussknacker. Für die einen sind sie ein unvergänglicher Ballettgenuss, für die anderen tausendfach abgeleiert und daher so langweilig, dass sie, wie andere Ballettklassiker auch, allenfalls in neoklassischer Neudeutung akzeptiert werden. Zu „La Belle et la Bête“ hat Tschaikowsky keine Ballettmusik geschrieben. Malandain hat deshalb eine Auswahl aus den Sinfonien zusammengestellt, die sein persönliches Anliegen unterstreicht. Die Märchenhandlung abstrahiert er zum Sieg der Liebe über die dunklen, tierischen Gewalten in der Natur des Menschen. Diesen Dualismus überträgt er zusätzlich, sozusagen als Allegorie der Allegorie, auf den Künstler, der als Tänzer und Choreograf aus Seele und Körper besteht. Im schwarzen Trainingsdress tritt der Künstler vor den schwarzen Vorhang. Seine weiblich grazile Seele und sein männlich kraftvoller Körper schlüpfen darunter hervor. Der Künstler zieht den Vorhang beiseite. Eine höfische Gesellschaft in goldschimmernden Roben und Gehröcken tanzt sich verspielt nach vorn. Nach kurzem klassischem Augenschmaus verschwindet sie hinter dem nur halb geöffneten Vorhang; ihre Roben werden in die erleuchtete Öffnung geworfen. Der Künstler zieht den Vorhang zu. Mal sind es viele Arme und Hände oder Beine und Füße, mal einzelne Körper, die sich unter dem Vorhang hervorstrecken und unsanft zurückgeschleift werden. Über die gesamten eineinhalb Stunden des Tanzstücks werden schwarze Vorhänge auf- und zugezogen, um den Blick wie in ein leeres erleuchtetes Kabinett zu lenken, das gerade Ort des Geschehens und zugleich allegorischer Innenraum ist. Die Tanzenden schälen sich aus dem Vorhang heraus und manchmal verwickeln sie sich auch in diesen. Einzig im Kabinett des Biests steht ein massiver Tisch mit Stuhl und Leuchter. Das verschiebbare schwarze Kabinett von Ausstatter Jorge Gallardo ist genial einfach. Dem in dem Künstler gedoubelten Choreografen liefert es den Rahmen, um seine Bewegungsabläufe Bild um Bild aufzuziehen wie magische Schaukästen. Claire Lonchampt tanzt die Schöne zart und zerbrechlich. Schwerelos gleitet sie, anfangs im weißen Hängerchen, dann zunehmend prächtiger gewandet aus den Vorhängen, umschwebt das Biest in hingebungsvoller Anmut und entgleitet wieder. Anders als im Märchen muss sie sich ihre Liebe nicht erkämpfen, sondern in flüchtigen Momenten erhaschen. Kämpfen muss der in seiner animalischen Natur eingeschlossene Mann in heftigen Anfällen verzweiflungsvollen Aufbegehrens, nach denen er jedesmal entkräftet niederkracht. Michael Conte tanzt sich mit akrobatisch gestemmten Sprüngen und expressivem Temperament zum Hauptprotagonisten in Malandains Lesart. Oben oder unten in furiosen Wechseln, auf dem Boden, auf dem Tisch, in Augenhöhe mit Bella oder ihr zu Füßen. Beim ersten Auftritt trägt er einen Tierkopf, dann nur noch eine Kopfvermummung. Er ist von Helfern oder Herausforderern umgehen, deren Rolle, abgesehen von ihrer tanztechnischen Funktion als Solo, Duo, Gruppe und so weiter, für den Zuschauer verschwommen bleibt. Allein das Pferd, das laut Programmheft die Zeit und die Lebenskraft symbolisiert, ist am weißen Pferdekopf klar zu erkennen. Die anderen Allegorien, allen voran die Rose, die im Märchen ja auch die Handlung antreibt, hätten einer optischen Unterstützung bedurft. Mit Vater und Schwestern kommt zu den erheiternden Vorhangspielen des Künstlers eine weitere Prise Humor in ein Spiel, das von seelischer Dramatik und dunkel-romantischer Atmosphäre beherrscht wird. Die dynamischen Wechsel der Staatsphilharmonie mit Gastdirigent Christoph König am Pult tragen das Geschehen von lyrisch zart zu grollendem oder triumphalem Fortissimo. Malandain ist seit 1998 künstlerischer Leiter des Centre Choréographique National (CCN) Biarritz. Es wurde in der Ära Jacques Lang gegründet, der die kulturelle Dezentralisierung vorantreiben wollte. Malandain brachte die derzeit 22 Mitglieder zählende CCN-Kompanie auf Spitzenniveau. Mit fast 100 Vorstellungen im Jahr zählt sie zu den aktivsten weltweit. Das CCN Malandain Ballet Biarritz ist, heute eng mit San Sebastian verbunden, ein kulturelles Aushängeschild des Baskenlandes.

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