Neustadt Ein Ausweg aus der Stille

Hören können bedeutet Lebensqualität: Ricarda Neuberg mit einem ihrer zwei Cochlea-Implantate.
Hören können bedeutet Lebensqualität: Ricarda Neuberg mit einem ihrer zwei Cochlea-Implantate.

Um die Ohren von Ricarda Neuberg funkelt es. Hinter beiden Ohrmuscheln scheint sie jeweils ein Headset oder ein Hörgerät zu tragen, das dem ersten Eindruck nach mit einer Art Haarspange in Knopfform verbunden ist. „Mama, was hat die Frau da?“, ist daher ein Satz, den die 51-Jährige sehr oft aus Kindermündern hört. Mithören nicht selbstverständlich Dass sie solche Bemerkungen überhaupt hören und sich sogar darüber freuen kann, verdankt die mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Haßloch lebende Technische Zeichnerin ihren auffälligen „Funkelspangen“, die in Wahrheit sogenannte Cochlea-Implantate (CI) sind. Die beiden elektromedizinischen Geräte, die ihr Mann für sie mit bunten Schmucksteinchen verziert hat, wurden Ricarda Neuberg erst vor zwei Jahren eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war die von Geburt an hochgradig schwerhörige Frau „schon fast an der Grenze zur Taubheit“, wie sie im RHEINPFALZ-Gespräch berichtet: „Als ich zwei Jahre alt war, sprach der Kinderarzt meine Eltern auf meine verzögerte Sprachentwicklung an, die sie aber schon längst selbst bemerkt hatten.“ Ein Weg aus dem „Funkloch“ Die niederschmetternde Diagnose lautet: Starke Schwerhörigkeit durch vermutlich angeborene Schädigung des Innenohrs, denn ein auslösendes Ereignis wie Unfall oder Krankheit hatte es bei Ricarda Neuberg nicht gegeben. In der Kinderkrippe hatte man das bislang als gesund geltende Kind nicht anders unterrichtet als andere. Was die Frau mit dem Pferdeschwanz und den auffälligen „Spangen“ berichtet, formuliert sie mit Bedacht, aber in perfektem, ruhig artikulierten Hochdeutsch. Die Lippen ihres Gegenübers fixiert sie noch immer genau mit Blicken: Etwa ein Drittel des Gesprochenen verstehe sie allein auf diese Weise, erklärt die Technische Zeichnerin, die 30 Stunden pro Woche arbeitet. „Vieles sind aber auch Automatismen, so wie im Lokal, wo klar ist, dass der Kellner immer zuerst fragt, was man trinken möchte.“ Bei ihrer Einschulung mit sieben Jahren wird Ricarda Neuberg 1973 in eine Schwerhörigenschule geschickt, die sie bis heute die „Schwerenschule“ nennt – gegen die Proteste der Mutter, die eine Sprachschule bevorzugen würde. „Man hat ihr aber gesagt, dass ihr Kind erst mal richtig hören lernen müsse, bevor man über die Sprachförderung nachdenken kann“, weiß Neuberg noch genau. Nach zwei Jahren kämpfen die Eltern für die Versetzung an die Regelschule: Ein Klassenkamerad macht vor, dass das gelingen kann. Ricarda muss das dritte Schuljahr an einer Mannheimer Grundschule aber trotz guter Leistungen wiederholen, da sich ihre soziale Eingewöhnung in die Gruppe nicht einfach gestaltet. Im selben Jahr bekommt das Mädchen sein erstes Hörgerät. Keine leichte Zeit für die Grundschülerin: „Für die anderen Kinder galt damals: Wer taub ist, der ist auch dumm.“ Hörhilfen im Wandel der Zeit Nach den vielen Alltagshürden verlässt Ricarda Neuberg mit der Mittleren Reife die Gesamtschule, macht trotz Hörgerät den Führerschein und eine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin bei einem Unternehmen für Schienenverkehrstechnologien. Dafür wird ihr nun auf Anfrage nachträglich das Fachabitur anerkannt, wie sie lächelnd berichtet: „Meine Töchter sind auf dem Gymnasium, und ich wollte ihnen zeigen, dass ich das am Ende auch geschafft habe.“ Neubergs Hörhilfen haben sich im Lauf der Jahre nach und nach von einem „großen Kasten, den man umhängen musste“, zu immer kleiner werdenden Modellen gewandelt. Vor knapp zwei Jahren steht sie allerdings trotz regelmäßiger Arztbesuche vor fast vollständiger Taubheit: „Wir wussten nicht mehr weiter. Dann wurden mir nach einem Arztwechsel die Cochlea-Implantate vorgeschlagen.“ Das System kommt nur in Frage, wenn der Hörnerv noch funktionsfähig ist und Hörsignal dadurch ins Innenohr geleitet werden können. Im Januar 2015 wird bei Neuberg im rechten Ohr operiert, zehn Monate später dann links. Etwa anderthalb Stunden dauert jede Operation in der Fachklinik, wenn die Implantate eingesetzt werden. Nach einem Heilungsprozess von 14 Tagen beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt: Sie nimmt Sprache „nicht mehr nur als Geräusch“ wahr. Lautes Lachen, Glockenläuten, ein die Schallmauer durchbrechendes Flugzeug – alle Klänge wandeln sich allmählich von „irgendwas“ zu definierten Geräuschen, die Ricarda Neuberg aber wie Vokabeln einer Fremdsprache erst völlig neu erlernen muss. Dabei helfen ihr Stimmtherapeuten, Logopäden und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Implantation hilft hören Dass es Cochlea-Implantate gibt, wusste sie bis vor wenigen Jahren noch gar nicht. Als Betroffene hat sie nun an der Uniklinik Mannheim mit dem behandelnden Arzt ein „CI-Café“ für Gespräche mit Patienten angeboten, die sich vielleicht auch für die Hörprothese entscheiden wollen, und ist in der „Cochlear Implant Selbsthilfegruppe Neustadt/Pfalz/DÜW“ aktiv. „Für mich sind die Implantate und das Hören so viel Lebensqualität, dass ich auch Anderen helfen möchte, diese Möglichkeit kennenzulernen. Entscheiden muss jeder selbst.“ Die Anbieterinnen der Neustadter Treffen möchten Neuberg bei der Gründung einer Gruppe in Haßloch unterstützen, die als erster Schritt mit einer Hörberatung beginnen soll. Rückenwind bekommt Neuberg außerdem von Franz Krätschmer. Der ehrenamtliche Behindertenbeauftragte ist von der Technologie des Implantats, aber auch von Neubergs kämpferischer Einstellung beeindruckt: „Wie man sieht, ist es ein anstrengender Prozess, das Hören mit dem CI völlig neu zu erwerben, aber wir helfen gerne.“ Krätschmer hat bei der Verwaltung angefragt, ob sie ein mobiles System zur Hörsignalverstärkung anschaffen kann. Damit hätten Betroffene die Möglichkeit, mit Hörhilfen an Sitzungen, Konzerten, Diskussionsrunden und anderen Veranstaltungen wie jeder andere teilzunehmen. Kontakt —Für Interessenten einer „Cochlea-Implantat“-Selbsthilfegruppe: Ricarda Neuberg, Telefon 0162/9765646, E-Mail: ricarda.neuberg@web.de und Franz Krätschmer, Telefon 0151/21994749, E-Mail: behindertenbeauftragter@hassloch.de. —Beim Sicherheits- und Gesundheitstag am 9. September in der Pfalzhalle Infostand „Taub und trotzdem hören“. —Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft, www.dcig.de.

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