Neustadt Bezirk mit viel Potenzial

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Blick in die Rathausstraße.

Stadtspaziergang: Die Neustadter Vorstadt verströmt unglaublich viel Atmosphäre.

Was eigentlich ist die Neustadter Vorstadt? Das Gebiet zwischen Schöntal und Ludwigstraße? Oder gehört noch das Areal bis zur Altstadt dazu? Wer sich mit älteren Neustadtern unterhält, merkt schnell, dass früher vor allem Straßen und Plätze zählten, auch wenn alles irgendwie Vorstadt war. Da waren die Rathaussträßler, die Kohlplätzler oder jene vom Holzplatz. Doch gab es auch einmal das „Vorstadter Casino“ als Verein, der sich wie andere Stadtbezirke am Neustadter Sommertagsumzug beteiligte oder die Vorstadter Kerwe ausrichtete. Und es gibt mittendrin noch immer die Turn- und Sportgemeinde 1846 mit ihrer Halle in der Volksbadstraße – und folglich in direkter Nachbarschaft das frühere Volksbad, heute ein Ärztehaus. Wer durch die Straßen der Vorstadt wandert und dabei einen guten Geschichtenerzähler zur Seite hat, kann sich lebhaft vorstellen, wie das Leben hier einmal pulsierte. Zig Läden des täglichen Bedarfs gab es, viele Handwerker, von der Anzahl an Gaststätten ganz zu schweigen. Ein wenig verrufene wie das „Nachtlicht“ (Rathausstraße), die bei GIs gefragte Kolibri-Bar bei der Marienkirche, die Striptease-Bar am Kohlplatz, für die mancher Schüler gern einen Schlenker auf dem Nachhauseweg in Kauf nahm, wenn die Damen mittags aus dem Fenster lehnten. Oder das Gasthaus „Zum Nollen“, das auch billige Mietwohnungen und Zimmer für Reisende ohne festen Wohnzimmer offerierte. Norbert Schied, Vorsitzender des Innenstadtbeirats, erinnert sich gut an die unverpackten Bonbons, die die Obdachlosen zu seiner großen Freude verschenkten. Der Speyerbach floss noch offen, das Bachgängel war kein Parkplatz, sondern ein Gässchen unter einem Haus hindurch Richtung Rittergarten. Bei Seifen-Cron befand sich der offizielle Zugang – wenn zweimal im Jahr Putztag war, das Wasser abgestellt und das Speyerbach-Bett entmüllt wurde, war das ein Feiertag für die Kinder. Abgelichtet wurden sie von Fotograf Rehberg gegenüber, dahinter lag ein alter Friedhof. Wo heute die Kindertagesstätte St. Marien steht, war ab den 1950er Jahren eine Hilfsschule, ergänzt durch einen öffentlichen Spielplatz. Auch das ein Fest für Kinder. Ebenso der „Tempel“ an der Westschule, jenes kleine Gebäude hin zur Ludwigstraße, begrenzt durch zwei Säulen und voll mit Schreibwaren und Süßigkeiten. Charlys Whiskothek existiert heute noch – in den Sechzigern die erste Disko in Neustadt und weithin bekannt. Doch in der Vorstadt zeugt noch viel mehr vom früheren Leben, obwohl einiges abgerissen und durch mehr oder weniger gelungene Neubauten ersetzt wurde. Das alte Amtsgericht zum Beispiel mit dem Gefängnis in der Lindenstraße. Auf der Freifläche daneben ist eine neue Wohnbebauung geplant. Wo einst die berühmte Nudelfabrik Mack ihren Sitz hatte, ist heute die Feuerwache angesiedelt. Die alten Tore am Feuerwehrlager berichten davon. Eine reine Arbeitersiedlung war die Vorstadt indes nie. Die Bevölkerung war bunt gemischt. Hier dicht an dicht gebaute Mietshäuschen, dort Wohnhäuser im Eigentum ihrer Bewohner und dazwischen großbürgerliche Gebäude, Wohnsitz von Fabrikanten oder Winzerfamilien. Mittendrin die Synagoge der jüdischen Gemeinde, an die ein Gedenkstein erinnert, ebenso wie alte Gravuren in früheren Geschäftshäusern, Beispiel Ludwigstraße 10, ehemals eine Matzenbäckerei. Im Gebiet zwischen historischer Altstadt und Ludwigstraße hat sich viel durch das Städtebausanierungsprogramm getan. Schied indes ist nicht ganz zufrieden damit, weil die Bevölkerungsstruktur zu unterschiedlich sei. Ein Riesenpotenzial könnte zudem der Kohlplatz bieten, weiß sich Schied mit den Sanierern einig. Dort ist beispielsweise der frühere Gasthof „Prinz Ludwig“ saniert, steht aber weiter leer. Wie überhaupt der ganze Platz weitaus stärker bespielt werden könnte, als es derzeit möglich ist. Stichwort Bevölkerungsstruktur: Die Vorstadt hat einen erheblichen Migrationsanteil, was unter anderem die Westschule (Heinz-Sielmann-Schule) herausfordert. Ihr Engagement belegt zum Beispiel die naturnahe Umgestaltung des Schulhofs, für die sich Kinder, Eltern, Lehrer und Schulleitung eingesetzt hatten. Ob die Vorstadt wie Branchweiler ins Programm „Soziale Stadt“ aufgenommen werden kann, steht noch in den Sternen. Bis dahin abwarten will Sozialdezernent Ingo Röthlingshöfer aber nicht: Nach der Sommerpause soll eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden, die sich mit den Strukturen beschäftigt und damit, wie diese weiterentwickelt werden könnten. Ein ganz anderes Problem wird die Stadtpolitik ebenfalls noch lange beschäftigen: der Verkehr. Um die Belastung für die Vorstädter zu verringern, gibt es angesichts der Platzverhältnisse wenig Möglichkeiten. Trotzdem Lösungen zu finden, beispielsweise Tempo 30 samt Kontrolle, bleibt eine Herausforderung.

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Antiquar Peter Eidel aus der Kunigundenstraße mit seinem jüngsten Schatz: einer Zeichnung des Juliusplatzes von 1923, Planwagen wie im Wilden Westen inklusive.
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