Neustadt Aufbruch und Lebenslust

«Neustadt». Vier junge Hamburger Frauen, alle um 1900 geboren, begleitet die Schriftstellerin Carmen Korn in ihrem Buch „Töchter einer neuen Zeit“ durch die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, als alle hoffen, dass die dunklen Jahre endlich hinter ihnen liegen. Man taucht als Leser(in) ein in eine Epoche des Aufbruchs, in der Frauen sich emanzipieren, Bubikopf tragen und zu arbeiten beginnen. Es ist der überaus spannende Auftakt einer Trilogie, deren zweiter Teil ebenfalls schon erschienen ist.

Man schreibt das Jahr 1919, der Weltkrieg mit seinen Entbehrungen ist gerade vorbei, und man begegnet vier Frauen, die aus ganz verschiedenen sozialen Verhältnissen stammen, aber alle im selben Hamburger Viertel leben, Uhlenhorst, damals eine Art Schmelztiegel ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Da ist die junge Henny, gerade 19 Jahre alt, die in der Frauenklinik Finkenau den Beruf der Hebamme erlernt, um einer neuen, friedlichen Generation auf die Welt zu helfen – in einer Klinik, die damals zu den modernsten in Deutschland gehörte. Da ist Käthe, Hennys Kollegin, die mit den Kommunisten liebäugelt und aus schlichten Verhältnissen stammt. Ida hingegen wohnt in einem vornehmen Palais im Hofweg, verwöhnt, aber unzufrieden mit ihrem Leben. Lina komplettiert den Viererbund, eine Lehrerin, die alleinstehend und unkonventionell den Alltag meistert. Eine stringente Dramaturgie des Erzählens verwebt diese vier Lebensentwürfe. Carmen Korn, 1952 geboren und nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule lange als Redakteurin beim „Stern“ beschäftigt, wohnt selbst seit 40 Jahren auf der Uhlenhorst. Ihr Roman ist aus vielen eigenen Erinnerungsbausteinen gewachsen, aus kleinen Erzählungen, aus Gesprächen im Alltag, aber natürlich auch aus historischer Recherche. Sie hat sehr viel gelesen, um die Lebensverhältnisse der damaligen Zeit genau zu rekonstruieren: antiquarische Bücher oder auch Warenhauskataloge aus den 20er Jahren, um zu sehen, welche Radios es damals gab oder wie der Christbaumschmuck aussah. Und irgendwann standen sie dann vor ihr – Henny, Käthe, Ida, Lina. Ihr Quartett von Protagonistinnen, die gerade deshalb so faszinierend sind, weil sie eben so verschieden sind in ihrer Herkunft, aber gar nicht mal in ihren Wünschen. Da eint sie alle die Sehnsucht nach dem kleinen Glück. Vor allem Ida ist es, die wohl den radikalsten Weg wählt – sie beginnt eine gar nicht standesgemäße Affäre mit einem jungen Chinesen aus der Schmuckstraße. Inspiriert wurde Korn auch von den Frauen ihrer Familie, vieles aus deren Leben und aus deren Persönlichkeiten hat sie in den Romanfiguren wieder aufleben lassen. „Ich habe immer schon an den Lippen meiner Großmütter und Großtanten gehangen, um diese Zeit einzufangen. Denn ich finde es so unglaublich, was die Menschen erleben mussten in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts“, sagt sie. Lebensträume und Liebesgeschichte vermischen sich so mit der großen Politik. Der Roman führt bis in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen verheerenden Bombenangriffen. Über die vier Frauen hinaus gibt es auch ganz wunderbare Männerfiguren, den jüdischen Arzt Kurt Landmann etwa oder Käthes Vater, ein schlichter Bursche, der dem Leser im Laufe des Romans immer mehr ans Herz wächst. Insgesamt entsteht so ein spannender, bildmächtiger, dialogstarker Roman, der zudem glänzend recherchiert ist und trotz großer Bilder nie sentimental wird. Erst vor wenigen Wochen ist der zweite Band der Jahrhundert-Trilogie mit dem Titel „Zeiten des Aufbruchs“ erschienen. Er schließt unmittelbar an den ersten Teil an und führt mitten hinein in die Wirtschaftswunder-Zeit. Da eine der Protagonistinnen am Ende des ersten Bands als verschollen gilt, ist man besonders gespannt auf den Fortgang. Der dritte Band soll nach Angaben der Autorin dann bis ins Jahr 2000 weiterführen. Lesezeichen Carmen Korn: Töchter einer neuen Zeit. Roman, 560 Seiten, gebunden bei Rowohlt-Kindler, 19,95 Euro, als Rowohlt-Taschenbuch 10,99 Euro.

x