Neustadt Mephisto mit Fistelstimme

Neustadt. Was für ein Anfang für ein Buch: „Ich bin dazu verdammt, mit der Erinnerung an einen Jungen mit einer entsetzlichen Stimme zu leben – nicht wegen seiner Stimme, auch nicht, weil er der kleinste Mensch war, der mir je begegnet ist, und nicht einmal, weil er das Werkzeug zum Tod meiner Mutter war, sondern weil er der Grund ist, warum ich an Gott glaube: wegen Owen Meany bin ich Christ geworden.“ Das sind die ersten Sätze von „Owen Meany“, dem siebten Roman des US-Schriftstellers John Irving.

Mit diesem Buch hat Irving ein Meisterwerk geschaffen. Eines, das bis heute gegenüber seinen bekannteren Werken „Garp und wie er die Welt sah“ und „Das Hotel New Hampshire“ ein Schattendasein führt. Dabei bringt „Owen Meany“ alles mit, um ein absolutes Lieblingsbuch zu sein. Hauptpersonen der Handlung sind der Ich-Erzähler John Wheelwright und der Titelheld Owen Meany, dessen bester Freund. Aufgrund seiner körperlichen Auffälligkeiten ist der kleinwüchsige Owen oftmals Zielscheibe des Spotts der anderen Kinder, die sich einen Spaß daraus machen, den Wehrlosen herumzutragen. Dennoch behält er seine Würde, entwickelt sogar eine Leidenschaft für Basketball – indem er von seinem besten Freund auf den Schultern getragen wird, um den Ball in den Korb zu befördern. Das Schicksal will es jedoch, dass die von Owen aufs Heißeste verehrte Mutter seines Freundes John während eines Baseballspieles tödlich verunglückt – durch einen von Owen geschlagenen Ball, der sie am Kopf trifft. Owen wird daraufhin von der Vorstellung getrieben, dass er als Werkzeug Gottes auserwählt wurde und sieht in einem immer wiederkehrenden Traum Ort, Art und Datum seines eigenen Todes, durch den er anderen das Leben retten wird – quasi als Wiedergutmachung für den schrecklichen Unfall. „Owen Meany“ ist eine Geschichte über das Aufwachsen im Amerika in der Zeit des Vietnamkrieges und über die Emanzipation der Titelfigur zu einem ganz großen Helden. Irvings schmächtiger Mephisto mit Fistelstimme schillert dabei in allen Facetten: engelhaft, diabolisch, altklug, naiv – und vor allem immer zutiefst menschlich. Hinter der Folie der Handlung um den kleinwüchsigen Owen geht es Irving in seinem Werk aber noch um etwas anderes: nämlich um die Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion in einer allzu stark auf sich selbst bezogenen Gesellschaft. Das stellt im detaillierten Beleuchten verschiedener christlicher Bekenntnisse in den USA bisweilen etwas höhere Ansprüche an den Leser, lohnt sich aber. Fast 900 Seiten lang ist der Roman. Und für den, der sich einlässt, ist jede einzelne Seite ein Genuss. „Owen Meany“ ist eine zutiefst berührende Geschichte über eine einzigartige Freundschaft, die keine Grenzen kennt. Eine Freundschaft wie die von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Doch weit darüber hinaus geht es hier um die Frage, wie man sich in einer zunehmend chaotischen Welt seinen Glauben bewahren kann. Owen steht für diesen tiefen Glauben, der sich durch nichts erschüttern lässt. Er ist ein Märtyrer, eine bisweilen geradezu messianische Figur. Ein unvergesslicher kleinwüchsiger Romanheld, mit der John Irving gleichzeitig den Hut vor seinem Freund Günter Grass und dem Oskar Matzerath aus dessen „Blechtrommel“ zieht. Der Roman ist ein beeindruckendes Beispiel von Irvings unerhörter Fabulierkunst, seiner geradezu uferlosen Phantasie und seiner beneidenswerten Gabe, den Leser von Beginn an in den von ihm geschaffenen Kosmos seiner Figuren mit einzubeziehen. Der Autor liebt seine Figuren – er ist ein Menschenfreund – und hat dennoch seine Meinung zum Geschehen. Diese vermittelt er auch durch die ihm eigene düstere Komik. Die Kunst, wie der Autor den Leser mitnimmt auf die Reise zu einem sich stetig deutlicher ankündigenden dramatischen und zutiefst bewegenden Ende und die das Buch regelrecht an den Händen festwachsen lässt, sucht ihresgleichen. Kurz: „Owen Meany“ ist perfekt durchkonstruiert und spannend wie ein Thriller. Und der Roman hat alles, was einen echten Irving ausmacht: Die Themen Jugend, Freundschaft, Familie, Sex, Tod, Schicksal, politische Kritik, skurrile Komik. Lesezeichen John Irving: Owen Meany. Diogenes-Verlag, Taschenbuch, 864 Seiten, 14 Euro.

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