Ludwigshafen „Laufen, einfach laufen“

Für Alkoholiker ist die Selbsthilfegruppe oft eine „Überlebensversicherung“, wie ein Betroffener in Ludwigshafen erzählt.
Für Alkoholiker ist die Selbsthilfegruppe oft eine »Überlebensversicherung«, wie ein Betroffener in Ludwigshafen erzählt.

„Nach einem Jahr hat man alle Geburtstage einmal durch“, sagt ein Mann. Er ergänzt: „Trocken durch.“ Das erste Jahr Abstinenz sei das schlimmste. Wenn man im Supermarkt am Spirituosenregal vorbeiläuft. „Da haben sie Schweiß!“, sagt ein anderer. Oder die Sache mit dem Fußballtraining. „Danach stand immer ein Kasten Bier in der Kabine. Ich hatte Mordsangst vor einem Rückfall.“ Irgendwann habe er sich entschieden, in die Offensive zu gehen. Wie auf dem Fußballfeld. Zu sagen: „Ich bin Alkoholiker.“ Dann stand in der Kabine neben dem Bierkasten eine Flasche Apfelsaft. Selten so eine Stille erlebt. So eine Ruhe, wenn einer spricht, die anderen zuhören, aufmerksam sind, wirklich interessiert. Dienstagabend, eine Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuz Ludwigshafen. Ein unscheinbarer Raum am Goerdelerplatz, die Tische u-förmig gestellt, 15 Leute sind gekommen. Der Gruppenleiter sagt: „Machen wir eine kleine Befindlichkeits- und Vorstellungsrunde.“ „Ich bin froh, dass ich in die Gruppe gehe“, sagt einer. Ein anderer geht fünf Mal pro Woche in verschiedene Selbsthilfegruppen. „Es ist ein Sicherheitsanker.“ Der Mann mir gegenüber ist heute zum ersten Mal da. „Seit fünf Wochen trocken“, berichtet er. „Mir geht es gut“, sagt er dann noch. Eine Frau stellt sich als Angehörige vor. Der Mann daneben: „Der erste Mann meiner Frau hat gesoffen.“ Dann sei ein anderer gekommen, ein neuer. Es ist still. Dann wird gelacht. Er selbst lacht auch. Gesprochen hatte er über sich selbst: Er selbst ist zu einem neuen Menschen geworden. Bewegend. „Das Blaue Kreuz ist eine Überlebensversicherung für mich“, sagt einer. Der Gruppenleiter: „Ich bin zwar sowas wie der Vorturner hier. Aber ich bin genauso Alkoholiker wie alle anderen.“ Wie alle anderen. Genau das ist es. Hier sitzen Menschen, die man auf der Straße trifft, bei der Arbeit, im Verein, im Schwimmbad. Es gibt nicht „die Alkoholiker“. Sondern ganz normale Menschen, die in den Alkoholismus gestürzt sind. Manche rasanter und tiefer als andere. „Innerhalb eines Jahres von ganz oben nach ganz unten“ sei er gefallen, hatte mir schon einer der Teilnehmer vor dem Gruppentreffen im Café Kontakt erzählt. Ganz oben heißt: gute Arbeitsstelle, guter Lohn. Ganz unten heißt: Räumungsklage. Das Café Kontakt im Erdgeschoss des Albert-Schweitzer-Hauses ist ein ungezwungenes, ein niedrigschwelliges Hilfsangebot. Wer reden will, was trinken – alkoholfrei natürlich – kann hierherkommen. Hier treffen sich Suchtkranke, Angehörige und Ehrenamtliche vom Blauen Kreuz. Der 59-jährige Harald Ludwig leitet das Café. Die Arbeit motiviere ihn, selbst abstinent zu bleiben. Denn auch er hatte mal ein Alkoholproblem. Wie alle Gruppenleiter hier. Sie wissen, wovon sie sprechen. „Wenn die Leute nicht mehr in die Kneipe gehen, brauchen sie einen anderen Ort für soziale Kontakte“, sagt Ludwig. Das ist das Café Kontakt. Die Menschen an meinem Tisch berichten davon, dass es hilft, Alternativbeschäftigungen zum Trinken zu finden. Einer hat mit dem Schreiben angefangen, ein anderer bastelt, treibt Sport – oder baut Papierdrachen. Zurück in der Selbsthilfegruppe: Erlebnisberichte. Wie es ist, wenn der „Saufdruck“ kommt. „Laufen, einfach laufen“, sagt einer. Als das innere Zittern im Magen da war, sei er einfach losgelaufen. Weiter, weiter, immer weiter. Als er nach einer Stunde zurückkam, ging es ihm besser. „Kontrolliert trinken geht schief“, heißt es dann noch. Es mit alkoholfreiem Bier zu versuchen sowieso, sagt ein anderer. Einer hat gerade sein 19. Jahr „trocken“ geschafft. „Ich musste mich erst mal wieder selbst kennenlernen.“ Sich für eine Selbsthilfegruppe zu entscheiden, kostet viel Überwindung, wie Harald Ludwig erzählt. Nur wenn der Alkoholkranke sein Problem erkennt, kann er herauskommen. „So wie ich das rieche, riechen andere das auch.“ Oft ist solch ein Satz, leise von einem Freund oder Arbeitskollegen gesprochen, der Anfang. Die Geschichte vieler begann im „sechsten Stock“, liebevoll „Trockendock“ genannt. Gemeint ist die Suchtstation in der Stadtklinik Frankenthal. Dort wird der Körper entgiftet. Auch im „Guten Hirten“ in Ludwigshafen gibt es ein solches Angebot. Aber entgiften ist erst der Anfang. „Alkoholismus ist nicht heilbar“, sagt einer noch zum Schluss. Deshalb kommen sie hierher. Um sich zuzuhören, Auf und Abs gemeinsam zu bewältigen. Die Zusammensetzung in der Gruppe ist jede Woche anders. Immer gilt: Was besprochen wird, bleibt hier im Raum. Für den Besuch der RHEINPFALZ haben die 15 Teilnehmer eine Ausnahme gemacht. Namen haben wir deshalb im Text keine genannt. Noch Fragen? Café Kontakt, Goerdelerplatz 7, montags bis freitags, 17 bis 21 Uhr, zu erreichen unter der Telefonnummer 0621/515951.

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