Ludwigshafen Identität statt Heimat

Hat den Franzosen Deutschland nahegebracht: Alfred Grosser.
Hat den Franzosen Deutschland nahegebracht: Alfred Grosser.

Über „Heimat ohne Grenzen?“ sollte eigentlich im Ludwigshafener Ernst-Bloch-Zentrum diskutiert werden. Stattdessen kreiste das Gespräch um die Probleme Individuum und Identität. Das jüngste Buch des prominenten Politikwissenschaftlers Alfred Grosser war daran nicht ganz unschuldig.

Alfred Grosser war dafür verantwortlich, dass das Bloch-Zentrum nach längerer Zeit wieder einmal einen Publikumsansturm erlebte. Der 92-jährige, zwischen Frankreich und Deutschland pendelnde Publizist hat sich große Verdienste um die Verständigung zwischen den einst verfeindeten Nationen erworben. In zahlreichen Publikationen hat er den französischen Nachbarn das Deutschland der Nachkriegszeit nahegebracht. Hierzulande ist er nicht zuletzt durch Auftritte in Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Leider verführte die Prominenz des bedächtigen, stets klug argumentierenden Politikwissenschaftlers den Moderator Dietrich Brants dazu, mehr über Grossers jüngste Veröffentlichung zu sprechen, als sich auf das Thema zu konzentrieren. Grossers im Februar erschienenes Buch „Le Mensch“ trägt den Untertitel „Die Ethik der Identitäten“. Nun gibt es sicherlich Anknüpfungspunkte zwischen Heimat und Identität, sie wurden aber nicht angesprochen. An Grosser lag es jedenfalls nicht, dass am Thema vorbeigeredet wurde. Denn als ihm der Moderator das Wort erteilte, stieß er sofort ins Herz des Problems vor. 1971, erzählte er, habe er sich den Unmut des damaligen Frankfurter Oberbürgermeisters zugezogen, als er in seiner Laudatio auf die Friedenspreisträgerin Marion Gräfin Dönhoff gesagt habe, Frankfurt sei sein Geburtsort, aber nicht seine Heimatstadt. Als seine Heimat, betonte er auch jetzt, betrachte er Frankreich, wohin er mit seinen jüdischen Eltern 1937 emigrieren musste. In Grossers Buch geht es aber nicht um Heimat, sondern um Identität. Und die Absicht, die er mit „Le Mensch“ verfolgt, bringt ein Zitat des französischen Philosophen Émmanuel Lévinas auf den Punkt. Es warnt davor, sich von anderen identifizieren und mit dem Finger auf sich zeigen zu lassen. Man solle aber, so Grosser, auch selbst nicht mit dem Finger auf andere zeigen und deshalb Verallgemeinerungen wie „die Franzosen“ oder „die Deutschen“ unterlassen. Seinen Rat unterstrich er mit den Worten: „Wenn wir Hitleropfer das nach 1945 getan hätten, würde es keine deutsch-französischen Beziehungen geben.“ Grosser riet auch dazu, Distanz zur eigenen Identität zu wahren, denn nur so ließen sich Leiden anderer nachempfinden. Auf dieser Einstellung habe seine heftige Kritik an Frankreich im Algerienkrieg beruht, später seine heftige Kritik an Israel wegen dessen Palästinenserpolitik. Eine Lanze für das Individuum brach auch der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann, der den Begriff Identität grundsätzlich scheut und ihm den des Selbstbewusstseins vorzieht. Der Österreicher brachte auch ein Beispiel, wie schwierig es ist, einen Menschen als Individuum wahrzunehmen. Nur weil er in Villach geboren sei, so kritisierte er, sei er früher von den Medien immer wieder gefragt worden: „Und was sagen Sie als Kärtner zu Jörg Haider?“ Von klein auf Schwierigkeiten damit, auf die Nationalität seines griechischen Vaters festgelegt zu werden, räumte auch der in Berlin lebende Journalist Mark Terkessidis ein. Erfrischend ungezwungen sprach er über die Schwierigkeiten Deutschlands, sich als Einwanderungsland zu verstehen, und über die Attraktivität Deutschlands für Migranten, weil das Grundgesetz eben die Rechte des Individuums schütze. Ob allerdings ein Rechtsstaat Heimat sein kann, ob „Verfassungspatriotismus“ (Habermas) möglich ist, diese Frage wäre eine eigene Diskussion wert.

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