Ludwigshafen „Das Bequeme und Gewohnte lehne ich ab“

Szene aus dem Musiktheater „Infinite Now“, das in Gent uraufgeführt worden ist.
Szene aus dem Musiktheater »Infinite Now«, das in Gent uraufgeführt worden ist.

Ein neues Musiktheater stellt die Mannheimer Oper heute Abend in deutscher Erstaufführung zur Diskussion. „Infinite Now“ (Unendliches Jetzt) von Chaya Czernowin ist eine Koproduktion mit der Flämischen Oper und dem Pariser IRCAM-Zentrum. Uraufführung war am 18. April in Gent. Regie führt der belgische Theatermann Luk Perceval, Verfasser des Schauspiels „Front“, das als literarische Vorlage diente. Im Gespräch erläuterte Chaya Czernowin die Konzeption ihres Stücks.

Sie zählt zu den profilierten Vertretern der Moderne; bei den exklusiven Avantgarde-Festivals in Europa, Asien und Nordamerika werden ihre Arbeiten regelmäßig aufgeführt. Der entscheidende Durchbruch glückte der in Haifa geborenen israelischen Komponistin 2000 bei der Münchner Biennale zeitgenössischen Musiktheaters mit „Pnima … Ins Innere“. Einen ebenfalls durchschlagenden Erfolg erzielte sie 2006 bei den Salzburger Festspielen mit „Adama“, einem Gegenstück zu Mozarts Singspielfragment „Zaide“. Unterrichtet hatte sie unter anderem an der State University of California, bei zahlreichen internationalen Meisterkursen, war Professorin an der Wiener Musikuniversität und hat seit 2009 ihren Lehrstuhl an der Harvard Universität. Mit „Infinite Now“ legt Chernowin ihren dritten Beitrag zur musiktheatralischen Gattung vor. Wie die beiden Vorgängerstücke spielt auch dieses vor politischem Hintergrund. In „Pnima … Ins Innere“ hatte sich die Tochter zweier Holocaust-Überlebender mit der Wahrnehmung des unfassbaren Schreckens in der zweiten Generation auseinandergesetzt. In „Adama“ beschäftigte sie sich mit dem Schicksal des hilflos leidenden Individuums in einer von nationalistischen und religiösen Wahnvorstellungen gesteuerten Welt. Gemeint war der Nahost-Konflikt. In „Infinite Now“ geht es jetzt um den Krieg. Luk Percevals „Front“ verbindet Erich Maria Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mit der Geschichte der belgischen Heimat des Regisseurs, die im Ersten Weltkrieg Schlachtfeld war. Czernowin wollte allerdings kein pathetisches Antikriegsstück. Ihre Absicht war, stattdessen in Grenzbereiche des menschlichen Daseins, des Unbewussten, der Wahrnehmung vorzudringen, und mit den beschränkten Mitteln der Musik und der Bühne das im realen Leben Unbegreifliche erfahrbar zu machen. Dazu hatte sich die Komponistin eines Kunstgriffs bedient, indem sie ins Libretto den Text „Homecoming“ (Heimkehr), eine surreale Novelle der chinesischen Autorin Xue Can, einfügte. Diese handelt von der Flucht einer Frau im nächtlichen Wald, in dem sie, so formuliert es Czernowin, „mit großen offenen Ohrenaugen tastend wie ein Blinder in der Finsternis voranschreitet“. Drei Stimmen begleiten sie auf ihrem Weg, gehen flüsternd, sprechend, singend ineinander über, woraus ein sonorer Zustand, eine Klangfläche, entsteht. Schließlich kommt die Frau in einem Haus am Abgrund an, ohne Licht, in ewigem Dämmerzustand, was als Chiffre für Hoffnungslosigkeit gedeutet werden kann. Dort erklärt ihr ein Mann die Ausweglosigkeit der Situation. Zunächst glaubt sie ihm nicht, am Ende sieht sie aber ein, dass es kein Entrinnen gibt. Was hat diese Erzählung mit „Front“ und „Im Westen nichts Neues“ zu tun? „Der Erste Weltkrieg“, sagt die Komponistin, „war etwas Absurdes, Unerklärliches, ein Tunnel ohne Ende, genau wie ,Homecoming`. Wie das Gemetzel und Morden begann und irgendwann aufhörte, ist nicht zu begreifen. Im Zweiten Weltkrieg war das ganz anders.“ „Pnima … Ins Innere“ sei der Vergangenheit zugewandt gewesen, „Adama“ habe sich mit der Gegenwart beschäftigt und in „Infinite Now“ gehe es um die Zukunft. Dieses Werk, so Czernowin, sei ihr erstes optimistisches Musiktheater, „ermöglicht durch die Einsicht in die Kontinuität des Weltgeschehens auf Grund der nackten Kraft der Existenz, des Überlebensinstinkts“. Schließlich zur Musik des Stücks. Sie ist für großes Sinfonieorchester komponiert, mit sechs Sängern, sechs Schauspielern, drei Soloinstrumentalisten und viel Elektronik. Die Leitung hat der Schweizer Dirigent Titus Engel, ein ausgewiesener Spezialist für Werke der Moderne. Wie das Thema dieses Musiktheaters, ziele auch seine Musik in die Zukunft. „Wenn man geschützt ist“, meint Czernowin, „kann man sich leicht bequem einrichten und auf seine Gewohnheiten verlassen. Ich lehne aber das Gewohnte und Bequeme ab, versuche noch unausgetretene Pfade zu beschreiten und neue Neuronen zu entwickeln. Wie es die großen Neuerer der Musikgeschichte auch taten: Gesualdo und Domenico Scarlatti etwa oder der späte Beethoven und am Anfang des 20. Jahrhunderts Debussy. Daher respektiere ich keine Hörgewohnheiten und bestehe darauf, dass aus allem Hörbaren Musik werden kann. Meine Kompositionen treffen sowohl auf äußerst positive als auch auf schroff ablehnende Resonanz. Damit lebe ich.“ Termine Premiere im Mannheimer Opernhaus heute um 19 Uhr. Weitere Vorstellungen am 28. und 31. Mai, am 5., 7. und 18. Juni.

Kann auch mit Ablehnung leben: Chaya Chernowin.
Kann auch mit Ablehnung leben: Chaya Chernowin.
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