Kultur Südpfalz Zwischen Fiktion und Realität

Lesung im Atelier: Gabriele Weingartner im Refugium von Anne-Marie Sprenger in Lustadt.
Lesung im Atelier: Gabriele Weingartner im Refugium von Anne-Marie Sprenger in Lustadt.

Für Spannung und Kurzweil, Sprachgenuss und viele erhellende Momente sorgte Gabriele Weingartner bei der Lesung aus ihrem „Geisterroman“ im Atelier der Künstlerin Anne-Marie Sprenger in Lustadt. 30 Besucher lauschten eine Stunde lang der in Edenkoben geborenen und Berlin lebenden Kulturjournalistin und Literaturkritikerin bei den Passagen aus ihrem siebten Roman, der zeitgenössische Lebens- und Familiengeschichte raffiniert mit Literaturgeschichte verknüpft.

Der Lese-Standort, das Scheunenidyll in der Lohngasse 5, passte ideal zur Thematik der Autorin, denn auch die Arbeiten der Künstlerin schlagen vielfach Brücken zwischen den Zeiten, thematisieren Ambivalenzen und Übergänge. Die Handlung des „Geisterromans“ umfasse zehn bis zwölf Stunden, die knapp einstündige Lesung sei also ein „Zehntel-Extrakt“, gab Weingartner eingangs den Zeitrahmen vor und bekannte, dass sie fasziniert sei von dem „Ineinsfallen von Erzählzeit und erzählter Zeit“. Im ersten von sechs Einblicken erfuhr man von der Heldin Klara, die auf der Zugfahrt nach Prag, wo sie ihre tote Schwester Solveig „abholen“ will, in einem Blizzard stecken bleibt und dem Kafkaforscher Slavomir in die Hände fällt. In ihren Erinnerungen reflektiert sie die steten Gloriolen und Lügen der älteren Schwester, zu der sie eine Hassliebe hatte, wie auch das notorische Faktenverdrehen ihrer Mutter. Zwei „Falschmünzerinnen“ also. Räumt aber auch ein, dass sich keiner sicher sein könne, in welchen Wirklichkeitsbereichen er sich aufhalte, „im unverrückbaren Kern oder an den bröckelnden Rändern“. Mit Röntgenblick analysiert die Neurologin Klara ihren monologisierenden Sitznachbarn und klopft ihn auf vertraute Figuren ab, um sich dann postwendend wieder dem Touchscreen ihres iPads zuzuwenden und Mails zu scrollen. Als der Zug in den Schneewehen steckt vermischen sich aber auch die Jahrhunderte und die Jahreszeiten, das Mögliche und Unmögliche. In einem der Abteils begegnen sich nun zufällig am 18. Juli 1917 auch Franz Kafka und Otto Gross, der Freud-Schüler und skandalumwobene Psychoanalytiker. Slavo verabreicht Klara einen Schnellkurs über Kafka und Zeitgenossen, streift Kriegsgemetzel, Folter, barbarische Heilmethoden, Kafkas Spendenaufrufe, die geplante Gründung der der beiden Männer für die „Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“ und anderes mehr. Fiktives und Reales vermischen sich in dem spannenden Roman voller Querverbindungen und Verflechtungen. So begegnet Klara im Bordbistro ihrem Ex-Mann Veit nach 30 Jahren wieder. Ein Hallodri und Aufschneider, in Affären auch mit Klaras verstorbener Schwester verstrickt. Ihrer Mutter habe er es „von Herzen gegönnt, dass sie einen so verworfenen Schwiegersohn besaß, einen Schurken, der mit ihren beiden Töchtern schlief, manchmal sogar in einer einzigen Nacht“, brüstete er sich. Was Klara, im Abstand der Jahrzehnte, gelassen zu nehmen scheint. Vielschichtige Charaktere, große Autoren wie auch Menschen nebenan, zeichnet Weingartner in ihrem 2016 im Limbus-Verlag erschienenen Zeitreisenkabinett, das amüsiert und erhellt, nachdenklich macht und bereichert. In schnörkelloser pointierter Sprache, bildmächtig und von großer Assoziationskraft. In der Diskussion nach der Lesung drehten sich die Fragen der Besucher um die akribische Recherche fürs Buch, um den Aufbau und einzelne Sequenzen, um die Spielfreude an den Figuren und die gelungenen Zeitbrücken. Besonders gewichtet wurde dabei Kafka, der hinter dem Alltäglichen das Ungeheuerliche und Groteske sah und der auf viele der Anwesenden eine „bis heute anhaltende Faszination ausübt“. In Weingartners Buch sehr treffend skizziert.

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