Donnersbergkreis „Mir warn die arme Leit“

Peter Roos (oben, links) studiert alte Fotoalben von Helmut Janson (rechts). Ganz links ist der heute 67-jährige Schriftsteller
Peter Roos (oben, links) studiert alte Fotoalben von Helmut Janson (rechts). Ganz links ist der heute 67-jährige Schriftsteller als Kind zu sehen mit seinem Vater, dem Tierarzt Otto Karl Roos im OP-Kittel. Das Foto wurde 1954 in Göllheim aufgenommen.

Der Tierarzt und die Bauern: Das sei damals, „vor der Industrialisierung!“, wie Helmut Janson mit Ausrufezeichen definiert, in Göllheim eine ganz wichtige Beziehung im Dorf gewesen. „Eine Symbiose?“, frage ich nach, ein Zusammenleben in gegenseitiger Abhängigkeit? Janson schweigt. Wenn er schweigt, hört man ihn denken. Förmlich sieht man hinter seiner hohen Stirn, wie er die Argumente heuhaufenweise hin und her schiebt, wiegt und gewichtet, und wenn er sein inneres Urteil gefällt hat, formuliert er es druckreif. Am liebsten auf Göllheimerisch. Also urteilt er: „Wir haben einander gebraucht!“ Pause. „Aber es war uns lieber, wenn wir Ihren Vater nicht rufen mussten!“ Den „Viehdogder“ hat man ganz selten – „Verflucht, jetzt müsse mer de Roos hole!“ – nur im allerletzten Moment geholt, weil „de Viehdogder“ Geld kostet, und „Geld war, was wir nicht hatten!“ Pause. Fazit: „Mir warn die arme Leit!“ Ich schlucke. Warum? Weil ich meine kindliche Dorf-Realität als Sohn des Arztes von der bäuerlichen Realität gespiegelt bekomme. Und weil die Jansonsche Aussage scharf die soziale Wirklichkeit des Bauernhöfchens in einem Bauerndorf widerspiegelt. Oben verschlabber ich hüpfend die Milli beim Herumtollen, unten hatte er täglich die harte Melk-Arbeit zu leisten, und jeder Tropfen war sein „Penning“ wert. Da spielte ich oben, da schuftete er unten. Aber nüchtern, wie Herr Janson ist, lässt er sein Gedächtnis reportieren: „Ihr Vater“, erzählt er mir, „hat 1947 oder ’48 in Göllheim angefangen. Zurückgekehrt aus der Gefangenschaft!“ Mit einem „Mopedsche“ kam er angefahren. Hatte „e Fremdezimmersche“ gegenüber, logierte also in der Gastwirtschaft von Herrn Ernst, der der Metzgermeister war, der Rochus, der mit den großen Bulldogen. Janson steht auf, zieht den Vorhang zur Seite und deutet auf die Fenster am Eck im ersten Stock: „Dort drowwe war sei Zimmersche!“, und „drunten an der Hauswand lehnte bald e rischdisches Motorrädsche. Mit dem kurvte der Doktor Roos bei Nacht und Nebel, bei Eis und Schnee von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, nahm Geburten ab, kastrierte Ferkel, impfte gegen Maul- und Klauenseuche, behandelte Koliken und schnitt Hufe aus! Und wenn die Großmutter auf dem Hof kränkelte, oder der Schweizer, also der Melkknecht, krank war, hat er sie gleich ruckzuck kostenlos mitbehandelt, kostenlos!“ Es habe in Göllheim nämlich eine richtige lange Geschichte der Tierärzte gegeben. Seit Jahrhunderten sind die beurkundet. Vor Vater Roos kannte Janson schon seinen Vorgänger Dr. Theo Ostermann, ein Herr, groß, schlank, freundlich, hilfsbereit, ein Herr mit einer Dame als Gattin, schön, vornehm, energisch, immer mit Hut, unsichtbar im Dorf, „nie selwer ekaaft“, aber jeden Sonntag im Gottesdienst und als gläubige Katholikin bei jeder Prozession dabei, „glei hinnerm Himmel“. Nach dem herrischen Dr. Schloßke, der zudem als arger, fanatischer Nazi galt, eine Wohltat. Auch im Ostermann-Haushalt hat Janson – von Beruf Elektroinstallateur – die Küchengeräte gewartet, den Kurzschluss repariert und dabei nebenbei mitgekriegt, dass Herr Doktor nur strümpfig das Haus betreten durfte: „Schuh aus!“, habe es bei der Heimkehr sofort gehallt. Während der Doktor Roos deftig mitten in der Diele stand mit seinen stinkigen Stallstiefeln in seinen Stiefelhosen und dem Kommentar: „Es ist keine Schande, wenn man riecht, dass ich Tierarzt bin!“ Tierärzte seien ja auf allen Bauern-Dörfern so wichtig gewesen wie die Kirchtürme, wichtiger jedenfalls als Menschenärzte, schätzt Janson, „denn wir lebten schließlich alle von der Landwirtschaft, und das Vieh sollte gesund bleiben – das war doch unser Kapital!“ Einen Zahnarzt etwa gab es im Ort lange nicht, selbst nach dem Krieg nicht, und wenn Janson von seinen Kieferschmerzen „verzählt“, schüttelt’s ihn heute noch. Da ist man nämlich von der Mutter zum Friseur geschickt worden, zum Herrn Hodel am Kerzenheimer Tor. Der war ein guter Haarschneider, aber ein brutaler Salbader, der ohne Betäubung den wackeligen Milchzahn aus dem Mund gewackelt oder den eitrigen Übeltäter mit einer Beißzange aus dem Kiefer gerissen hat, „denn richtig behandeln konnte der ja nicht!“ Vielleicht, überlegt Janson, „vielleicht hat der doch e klä bissje betäubt irschendwie“, aber „die Nachwehen waren immer sehr schlimm!“ Dass er einem dann nach dieser Prozedur „glei noch die Hoor abgsäbelt“ hätte, habe man schon gar nicht mehr gemerkt. „Nur im äußersten Notfall!“, schleppte man sich zum Kerzenheimer Tor. Zum Glück habe sich dann bald der Dr. med. dent. Schumacher niedergelassen, seufzt Janson, „der war ein guter Mann mit viel Gefühl“, vor allem für Kinder und „für Kriegsheimkehrer wie mich, alle naturgemäß mit miserable Zähn“. Lange sieht Janson still vor sich hin. Dann Schmunzeln. Als der Zahnarzt seine Praxis eröffnet hätte, habe der Frisör, gar kein Einheimischer, seine Frau von irgendwoher nachgeholt: „Die hat dann mit den Damen angefangen!“ Das sei eine „Mordssensation“ im Dorf gewesen, wie die angekommen sei mit ihrem „Mordskoffer“ voll: „Die ersten Lockenwickler in Göllheim!“ Und was da in diesem „Mordskoffer“ noch für Sachen drinnen gelegen hätten, „Zangen über Zangen, Glätteisen in allen Längen, Toupierkämme, auf die die die Haare gewickelt“ hätte – „die Fraun hunn da Teile uff de Kobb kried und Wickler sinn druff gewickelt worr!“ Das wäre wohl auch schmerzhaft gewesen „fer die Dame!“, schmunzelt er, die Prozedur hätte sicher aber weniger weh getan als das Zähnereißen im selben Stuhl vorher. Später wären „die gellemer Leckelscher“ dann moderner onduliert „worn“, und zum Schluss wurden ganz neue Geräte angeschafft, „unn die Fraue hunn stundelong unner de Haub gschwitzt!“, so Janson verschmitzt. Der Familie Roos ihre Haare hätte aber der „Miggeforz“ geschnitten, der Frisör bei der Konditorei Kraus. „Na ja!“. Mit diesen beiden kleinen Wörtern schließt Herr Janson meist einen abgerundeten Gedankengang ab. Und ist bereit für die nächste Frage. Oder für eine Ergänzung. Kurz-Info Der erste Teil der Serie erschien unter dem Titel „Und ob das alles wichtig ist“ am 30. September. Die nächste Folge handelt vom Witz im Kuhstall.

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