Donnersbergkreis Linien

Marleen Widmer bei der Lesung ihres Textes. Der Susanne-Faschon-Preis ist nicht ihr erster Literaturpreis. Die 17-Jährige erhiel
Marleen Widmer bei der Lesung ihres Textes. Der Susanne-Faschon-Preis ist nicht ihr erster Literaturpreis. Die 17-Jährige erhielt u.a. 2016 den Förderpreis des Literatur-Pfalzpreises für ihren Roman »Zwischen den roten Tüchern« und gewann 2017 den Europäischen Jugendliteraturwettbewerb.

ch komme in die Stadt, noch bevor es Sommer wird. Ich betrete sie an ihrem südlichen Ende und durchquere sie einmal ganz, bis ich im Norden ans Meer gelange. Es ist ein stiller, grauer Tag. Vom Wasser her weht ein frischer Wind. Die Wellen schlagen so heftig an die Kaimauer, dass winzig kleine Tröpfchen mein Gesicht benetzen. Die Häuser an der Promenade mit ihrem vom salzigen Wind schwärzlich verfärbten Putz und ihren kobaltblauen Türen und Fensterläden liegen so still und sauber da, als wären sie unbewohnt. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Ihre Bewegungen zeichnen deutliche, schwarze Linien auf den Asphalt. Manche gehen langsam und ziehen ihre Linien hinter sich her wie schwere Schleppen. Bei anderen sind es schwarze, zuckende Striche, die sich flackernd in alle Richtungen bewegen, wie farblose, zweidimensionale Wunderkerzen. Ich zucke schmerzlich zusammen, jedes Mal, wenn ihre Linien die meinen kreuzen, ohne dass sie es bemerken. Ich spüre das Magnetfeld um meinen Körper, doch es fühlt sich dünn und löchrig an wie ein alter, abgetragener Mantel. Obwohl es nicht warm ist, ziehe ich meine Schuhe aus und gehe die kleine Treppe am Ende der Promenade hinunter. Drei Stufen. Ich laufe zur Wasserkante. Der Sand ist grau und glatt wie die Haut eines Wales. n dem Moment, als ich die Tür der Kneipe hinter mir schließe, beginnt es zu regnen. Hinter dem Tresen sitzt eine sehr dicke Frau. Obwohl es in dem kleinen Raum nicht warm ist, ist ihr Gesicht gerötet, als schwitze sie. Es riecht nach Suppe und kaltem Rauch. Außer ihr und mir ist niemand da. Die Frau lächelt. Ich stelle meine Reisetasche ab. Haben sie noch ein Zimmer frei?, frage ich. Und sie machen Urlaub hier, sagt Eva, deren Namen ich jetzt weiß. Ich habe mich zu ihr an den Tresen gesetzt. Eigentlich war es mehr eine Frage als eine Feststellung. Ich zucke die Schultern. So ähnlich, ja. Im Gastraum ist immer noch fast niemand. Nur hinten an einem Tisch sitzen ein paar alte Männer, die Karten spielen. Eva stellt Gläser auf ein Tablett und füllt sie bis fast zum Rand. Sie bewegt sich langsam und unbeholfen. Etwas schwappt über den Rand, und ich höre, wie sie sich dafür entschuldigt. Ich bin die schlechteste Kellnerin der Welt, sagt sie und lacht. Sie lacht sehr oft. Sie gerät dabei immer ein bisschen außer Atem, und die roten Flecken auf der blassen Haut ihres Gesichts verstärken sich. Ich hatte nicht vor, ihr das zu erzählen, aber jetzt sage ich: Ich warte auf eine Freundin ... sie kommt mit dem Schiff, sobald der Sommer beginnt. Noch ist ja gar nicht Sommer. Eva schaut mich fragend an. Ich zucke wieder die Schultern. Ich warte eine ganze Woche. Dann noch eine. Warum wartest du hier auf sie, fragt sie mich. Es ist immer noch fast sommerlich warm, und die Tür der Gaststube steht einen Spaltbreit offen. Sie hat die Unterarme auf dem Tresen verschränkt und beugt sich leicht nach vorne. Ich meine, wenn sie kommt, dann würde sie dich sicher besuchen. Du könntest zuhause warten. Kann ich nicht, sage ich. Warum nicht? Ich glaube, weil ich sie liebe. Ich lausche dem Klang meiner eigenen Worte hinterher. Sie sind schwer und schillernd, voller Bedeutung. Für einen Moment bleiben sie hängen, in der schalen, von Gerüchen durchsetzten Luft der Gaststube. Dann ist es vorbei. Ich senke den Kopf und schiebe mein Glas auf dem Tresen hin und her. Es hinterlässt einen nassen, runden Fleck auf dem glänzend polierten Holz. Wie meinst du das, dass du sie liebst? So, als wäre es Schicksal, dass wir uns getroffen haben. Aber warum? ch denke an Vivian, an Vivian am Strand, bis zu den Knien im Wasser. Sie hat ihre Hosenbeine hochgekrempelt, aber trotzdem färbt das spritzende Wasser die Säume ihrer Jeans dunkel. Sie wirft einen vorsichtigen Blick zu mir zurück und lächelt. Was ist los, frage ich. Sie senkt den Kopf, lacht, murmelt etwas, aber so leise, dass ich es nicht verstehen kann. Was? Nichts, wiederholt sie lauter und wird ein bisschen rot. Manchmal lächle ich dich einfach nur so an. Weil es darum geht, sage ich. Um den Moment, in dem man alles auf eine Karte setzt und einfach Liebe sagt. Ohne sich darum zu kümmern, was daraus wird. Eva sagt nichts. Ich hebe den Kopf und sehe, dass sie mich ansieht, die Lippen leicht geöffnet, die geröteten Augen weit aufgerissen. Eine steile Falte auf der Stirn. Ihr Gesicht zeigt einen so rückhaltlos emotionalen Ausdruck, wie ich ihn noch nie bei einem Menschen gesehen habe. Und wirkliche Liebe, sage ich schnell, ist Schicksal, weil sie so stark ist, dass man sich dagegen nicht wehren kann, weil das wäre, als würde man sich gegen das Leben selbst wehren. Wir sitzen eine Weile still da, und Eva sieht mich unablässig an. Dann sagt sie: Du könntest dir weh tun. Aber das ist mir egal. Wofür leben, wenn nicht, um zu lieben. Das ist kein Leben. Und Leben bedeutet, sich dem Risiko des Zerbrechens auszusetzen. Den Schutz hinter der gläsernen Wand zu verlassen. Also warte ich. Und Eva hinter ihrem Tresen, vielleicht wartet Eva auch. In der Stadt ziehen die Menschen ihre schwarzen Linien, unaufhörlich. Tausendfach durchbrochene Grenzen. Ihre Anwesenheit reizt mich. Wieder spüre ich das alte Jucken zwischen den Schulterblättern. Es wird wärmer und noch wärmer, und der Sommer lässt sich nicht mehr leugnen. Vivian ist jetzt seit genau einem Jahr fort und schreibt mir nur noch selten. Ich zweifle nie daran, dass sie zurückkommen wird. Tief im Innern glaube ich daran, dass die Intensität, mit der ich sie vermisse, wie eine starke magnetische Kraft wirken und sie zu mir zurückbringen wird. Dann träume ich von ihr. Ich schwimme inmitten eines großen, schwarzen Meeres. Am Himmel haben sich Wolken zusammengeballt, als würde es gleich ein Gewitter geben. Um mich herum spüre ich die bedrohliche und zugleich hypnotische Präsenz anderer wie mich, Sirenen mit langen schuppigen Schwänzen und den Mündern voller spitzer Zähne. Wir umkreisen uns gegenseitig in großen Spiralen. Ich sehe in ihre Augen. Sie sind tief und schwarz, pupillenlos, wie Tunnel ins Bodenlose. Dann sehe ich Vivian. Ihre nackten Schultern ragen aus dem Wasser wie runde, weiße Hügel, und auf ihrem Gesicht liegt ein düsteres Licht. Das Meer singt. Wir umkreisen sie. Sie versucht, ihre Angst zu verbergen. Ihr geöffneter Mund entblößt eine Reihe spitzer Zähne. In ihren Augen liegt ein dunkler Schimmer, doch ich kann ihre Pupillen sehen, ihre Iris, die zarten Linien der Äderchen darin. Wir atmen zischend ein. Von allen Seiten zieht es die Wellen in unseren Kreis. Wir strecken die Arme aus und das Wasser schlägt über Vivians Kopf zusammen. Noch einmal taucht sie auf und schnappt verzweifelt nach Luft. Dann wird sie von einem gewaltigen, trichterförmigen Strudel endgültig nach unten gezogen. it einem Ruck wache ich auf. Draußen hat es zu regnen begonnen. Das Fenster steht offen, und die feuchte Gardine schlägt im Luftzug immer wieder gegen die Fensterbank. Ich stehe auf und gehe barfuß und zitternd die Treppe in den Gastraum hinunter. Vivian ist ertrunken, denke ich. Ich habe Vivian ertränkt. Ich ertränke Vivian. Doch auf verwirrende Weise kommt es mir gleichzeitig auch so vor, als sei ich ebenfalls sie, als sei ich Opfer und Täter zugleich. Eva sitzt unten am Tresen und unterhält sich mit einer Frau aus der Stadt. Ich nehme ihre Präsenz im Raum mit einer überdeutlichen Klarheit wahr. Ich kann jeden einzelnen Menschen, jedes einzelne Objekt im Raum fühlen als einen Körper in der Leere. Es ist warm. Das Rauschen des Regens ist kaum noch zu hören. Ich setze mich ganz hinten ans obere Ende des Tresens. Eva scheint mich nicht zu bemerken. Ihr Gesicht wirkt im gelben Licht der Lampe seltsam verschwommen und unscharf. Ihre Augen sind wie kleine Schlitze im Fleisch. Dann sehe ich die Farbe. Die Farbe, die ich noch nie vorher bemerkt habe. Ihre Augen sind geradezu unwahrscheinlich hellblau, glitzernd, wie das Meer in der Sonne, doch leichter noch als Wasser. Ich kann nicht mehr wegschauen, nehme keine Geräusche mehr wahr. Ich sehe, wie sie lacht. Wie sie gestikuliert beim Reden. Und dann bemerke ich, wie klein ihre Hände sind. Kleine, zarte Hände, zu klein für die großen Gläser, zu klein für ihre dicken Arme, für ihren schweren Körper. Es ist wie eines dieser mathematischen Muster, die ins Unendliche gehen. Man sieht sie und glaubt, man hat alles gesehen, doch wenn man sich nähert, sieht man, dass das Muster nie endet, sich aus sich selbst heraus immer wieder neu gebiert. Und auf einmal sehe ich die zweite Frau. Die Gefangene in der Festung ihres Körpers, der schlecht sitzt wie ein zu groß geratener Anzug. Ich sehe, wie sie zappelt, wie sie sich zu befreien versucht, doch hoffnungslos feststeckt. Sie ist strahlend blau und heller als alles, was ich jemals gesehen habe. Ihre schiere Schönheit nimmt mir den Atem. Es dauert nur einen Moment, und dann ist alles vorbei. Eva unterhält sich noch immer mit der Frau. Ich stehe leise auf und gehe zurück in mein Zimmer. s ist noch früh, als ich wieder aufwache. Ich stehe auf, gehe durch die leere Gaststube und hinaus auf die Promenade. Der Boden ist noch nass vom Regen, doch schon jetzt ist es so warm, dass der Asphalt zu dampfen beginnt. Der Himmel ist strahlend blau. Ich bin traurig, und zugleich fühle ich mich seltsam erleichtert. Als sei etwas in mir nach langer Zeit zur Ruhe gekommen. Als ich das Ende der Promenade erreiche, sehe ich Eva. Sie sitzt am Ufer auf einem Stein und hat mir den Rücken zugewandt. Trotz des warmen Wetters trägt sie eine langärmelige lilafarbene Bluse. Sie sitzt ganz still. Doch als ich näher komme, sehe ich, dass sie nicht aufs Wasser hinausschaut, sondern auf einen kahlen, abgestorbenen Busch, dessen Wurzeln sich hartnäckig zwischen zwei Steinbrocken festkrallen. Sie sitzt da und starrt in das Durcheinander aus sich tausendfach überkreuzenden dürren Zweiglein hinein, als versuche sie, darin ein bestimmtes Muster auszumachen. Ich setze mich neben sie. Die Feuchtigkeit des Sandes dringt durch meinen Hosenboden. Sie lächelt, aber sie sieht ein bisschen müde aus. Weißt du, sagt sie schließlich, ich habe darüber nachgedacht, und ich glaube, Schicksal ist nur ein entschuldigendes Wort für Entscheidung. Und so etwas wie eine Schmerznotwendigkeit gibt es gar nicht. Ich weiß nicht, sage ich. Ich weiß nicht. Aber in mir steigt ein ganz leises, vorsichtiges Gefühl der Freude auf. Irgendwo von weiter hinten, vom Hafen her, ertönt das tiefe Hupsignal eines ankommenden Schiffes.

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