Donnersbergkreis An Tisch des Erinnerns gefesselt

Lesung mit verteilten Rollen: Zweiter von rechts ist der Autor Wolfgang Ohler.
Lesung mit verteilten Rollen: Zweiter von rechts ist der Autor Wolfgang Ohler.

«KIRCHHEIMBOLANDEN.» Weiterer Höhepunkt der Donnersberger Literaturtage war die szenische Lesung von Wolfgang Ohlers „Die Träumer von Struthof- Erzählung und mehr“ in der Stadtbücherei. Katharina Elsinger stellte den Zweibrücker Autor vor: pensionierter Vizepräsident des Pfälzischen Oberlandesgerichts, Schriftsteller mit zahlreichen Veröffentlichungen und Auszeichnungen, 2016 Pfalzpreis für Literatur.

Ein packender Abend, der ein größeres Publikum verdient gehabt hätte! Präsentiert wurde von Ohler und seinem Ensemble ein suggestives, darstellerisch wie sprechtechnisch geschliffenes Hörspiel zwischen Realität und Fiktion, historischer Aufarbeitung und Projektion. Es dreht sich um Naziverbrechen aus der Sicht eines Täters im elsässischen Konzentrationslager Natzweiler- Struthof. Vorhang auf: Seinen 100. Geburtstag feiert bei bester Gesundheit und in bewundernswerter geistiger Frische Siegfried Mangold (Ohler), Jahrgang 1906. Der Hörfunkreporter (Hans-Otto Streuber), der den Jubilar interviewt, kann es kaum fassen: Seit Mangold vor genau 50 Jahren aus der Haft heimkehrte, hat er sein Zimmer nicht mehr verlassen. Zunächst völlig erschöpft, liegt er drei Tage mit dem Kopf auf der Tischplatte. Und bleibt weiterhin mit seinem Bart an den Tisch gefesselt. Endlos. Niemand kann den Bart sehen, aber er ist hart wie Stahl. Allmählich wächst er, heute kommt er auf fünf Meter und lässt damit geringe Freiheiten zu. Ärzte und Wunderheiler sind ratlos. Das Mangold-Syndrom? Eine Kyffhäuser- Psychose? Es war dem jung gebliebenen fixierten Alten nie langweilig. Er hat die Zeit genutzt, das Abitur nachgeholt und Fernstudien absolviert. Unglaublich! Nostalgisch rauscht der Uraltschlager „Sing, Nachtigall sing“ vom Band, sein Hörerwunsch. Im Dialog mit seiner Ehefrau und intimen Vertrauten Gerda (Anita Bischoff), die ihm aufs Stichwort Erinnerungsbälle zuwirft, blickt er zurück. Ein Ritual, wie jedes Jahr: 1944 schwer verwundet, trifft er sie im Lazarett von Amiens. Die damals 19-Jährige, „Blitzmädel“ und Maidenführerin, ist dort Hilfsschwester. Eine rührende Romanze in fürchterlicher Umgebung. Kriegsuntauglich mit dem zerschossenen Bein, wird er dem Sanitätsdienst in Natzweiler unterstellt und im dortigen „Sanatorium“ in der medizinischen Forschungsabteilung bei den „Träumern von Struthof“ eingesetzt. Ringsum blühen Mohnfelder in flammendem Rot. Die kahlgeschorenen KZ-Häftlinge sind wohlgenährt und schwimmen wie in Trance gegen schrillende Sirenen an. Eine „seltsam schleppende Prozession“ kraftlos schläfriger Gestalten – mit dem Nagel auf der Uniform als Zigeuner, mit dem Davidstern als Juden katalogisiert. Menschliches Experimentiermaterial für den Rassehygieniker und ideologisch besessenen Professor der Medizin (Gerhard Kaiser). Den Pulsschlag der Probanden konnte er bereits auf 32 pro Minute senken, ehrgeiziges Ziel ist jetzt die wissenschaftliche Erforschung der Lügen, Halluzinationen, Träume und der Magie dieser „rattengleichen Untermenschen“. Um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, bedarf es der Aneignung ihrer Mythen. Nach erfolgreicher Mohnernte, eingebracht von den taumelnden Häftlingen, können die Dosen ihrer Drogeninjektionen verdoppelt werden. Mangold ist verantwortlich für die Blutproben und Traumprotokolle des Juden Ahab (Erhard Vogel) und des Rom Winterstein (Michael Dillinger, der die Szenerie auf der Mundharmonika untermalt). Winterstein erzählt die Legende von Jarko, dem armen Zigeuner, der vier Nägel für die Kreuzigung des sogenannten Heilands Joshua Ben Miriam schmieden soll und nur drei zustande bringt. (Daher sind häufig die Füße des Kruzifixus übereinandergelegt und mit nur einem Nagel durchbohrt.) Ahab bringt die Geschichte des Ewigen Juden Ahasverus vor, der nach der lästernden Begegnung mit dem Gottessohn keine Ruhe mehr findet. „2000 Jahre alte Legenden, die heute von anderen Scharfrichtern umgeschrieben werden“: Mangold erkennt, dass die Nazi-Ideologie zum Scheitern verurteilt war, weil sie Mythos und Realität verdrängte. Eine dritte Legende muss her – der Mythos des ewigen Deutschen! Die Sage vom schlafenden deutschen Kaiser im rabenumflatterten Kyffhäuser, eine Auferstehungsgeschichte um Heldentum und Friedenssehnsucht. Feierlich gelobt SS-Untersturmbannführer Mangold im Bund mit Ahab und Winterstein, die Rolle des schlafenden Kaisers tatsächlich auszuleben, falls sie den Irrsinn des Lagers Mohntal überstehen sollten, damit sich das Grauen der Nazis nicht wiederholt und der Jude und der Rom frei durch die Welt wandern können. Bis heute hat Mangold sein Versprechen gehalten. Ahab hat ihm eine Karte geschrieben, wie immer, und sich bedankt. Aus der Mongolei. Info Wolfgang Ohler: „Die Träumer von Struthof“, ergänzt u.a. um Auszüge der KZ-Lagerordnung und Anleitung für Wachtposten. Rhein-Mosel-Verlag, 179 S., 9,90 Euro.

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