Kaiserslautern Blicke auf die Grenzen des Menschseins

Der Japaner Seiichi Furuya ist ein erstaunlicher Künstler. Leise, aber präzise sind seine Fotos in klassischem Schwarzweiß. Das Künstlerbuch ist das ihnen angemessene Medium, mehr noch als die Ausstellung. Grenzen sind sein Thema, die persönlichen, die politischen, die der Erinnerung und die der Fotografie. „Wo die Wahrheit liegt“ heißt die stille Ausstellung im Heidelberger Kunstverein.

Es gibt Menschen, denen auf Erden nicht zu helfen ist. Seiichi Furuya konnte seine schwer depressive Frau Christine nicht retten, keiner konnte diese Frau retten. 1985 nahm sie sich das Leben. Fast täglich hat er sie porträtiert, nachdenklich am Fenster, schaumumspült in der Badewanne, mit Gänseblümchenkranz im Haar, nackt, mit der Katze, beim Besuch in Venedig: Ein Mensch an der Grenze, herb, mit zunehmend versteinertem Gesicht, das kein Gegenüber zulässt. Geblieben ist ein unendlicher, unendlich liebevoller, von sanfter Poesie erhellter Fotoroman. Vier Jahre nach Christines Tod hat Furuya ihn unter dem Titel „Mémoires“ öffentlich gemacht und in immer neuen Konstellationen in bisher zehn Fotobüchern veröffentlicht und in Ausstellungen gezeigt, in Heidelberg als in seiner Schlichtheit bewegender Bilderfries an der Wand. „Dadurch, dass ich sie sehe, sie fotografiere, sie im Bild anschaue, finde ich mich selbst“, sagt Furuya. Japan verließ er 1973, mit dreiundzwanzig. Lebte in Wien und heiratete 1978 die Fotografin Christine Gößler, 1984 übersiedelte er mit Frau und Kind in die DDR, arbeitete als Dolmetscher und blieb bis 1987. In der Serie „Zu Hause in Ost-Berlin“ fixiert er den Alltag in der Endzeit des real existierenden Sozialismus. Aufregender als die Berliner Grotesken ist die Arbeit „Staatsgrenze“ (1981 bis 1983), eine fotografische Bestandsaufnahme rund um 23 Orte im Grenzgebiet zwischen Österreich, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Furuya fotografierte von beiden Seiten, vom Westen aus und vom Osten. Als Ausländer durfte er das. Wieder „nichts Besonderes“. Nur Bauernland, weite Felder, bescheidene Häuser, ein Heiliger auf der Säule, Vögel als „legale Grenzflieger“. Hier ist (war einmal) die Welt zu Ende. Furuya ist ihr unaufgeregter Chronist. In einer mehrteiligen, mit rhythmisch pulsierenden Überblendungen arbeitenden Diaschau werden die drei Serien zu einer vom Zufallsgenerator organisierten Endlosschleife zusammengefügt, in der immer wieder die Christine-Bilder als tragisches Leitmotiv auftauchen. Das provoziert Fragen: Was ist privat, was ist politisch, was nämlich leistet ein unendliches, kaleidoskopartig durcheinandergeschütteltes Bildarchiv? Zu welcher Erkenntnis führt die knapp an der Kapitulation vorbeischrammende Sammelwut? Muss sie uns überhaupt interessieren? Furuya erzählt kleine Geschichten im Großen und große Geschichten im Kleinen, der Sinn seiner Erzählung aber ist offen. „Wo die Wahrheit liegt“ bleibt im Geheimnis stecken, für den Betrachter bleiben der Schock und der Zweifel. Heute lebt Seiichi Furuya als Fotograf und Kurator wieder in Österreich, meist in Graz.

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