Grünstadt Schaurig Schönes im Gewölbe

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Das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man in einen tiefen dunklen Keller hinabsteigt, ein Gewölbe erreicht, in dem die Ratten hausen, der Salpeter von der Decke hängt, das Raunen der Verstorbenen hinter jeder Mauer zu hören zu sein scheint – schaurig schön. Genau der Eindruck, den Edgar Alan Poe mit seiner Kurzgeschichte „Das Fass Amontillado“ wecken wollte. Rainer Scheer hat sich am Donnerstagabend bei der 95. Crime-Time im Leiningerland als Meister des morbiden Vorlesens erwiesen.

Zum ersten Mal fand die Lesung des Roman-Experten und RHEINPFALZ-Krimi-Kolumnisten im Obrigheimer Weingut Müsel statt. Kerzenschein, altertümliche Gebrauchsgegenstände an den Wänden, eine lange Tischreihe im Durchgang des Weinguts, alle Stühle besetzt, andächtiges Lauschen. Mehr als 30 Besucher kamen zur ersten Crime-Time im Weingut, fünf Veranstaltungen dieser Art wird es bis Oktober dort geben. Und wie immer schafft es Scheer, seine Zuhörer in den Bann zu ziehen. Besonders eindrucksvoll war die Lesung der Kurzgeschichte von Poe, da Scheer mit der Stimme die beiden Charaktere, die beschrieben werden, so trefflich zu gestalten verstand. Auf der einen Seite, der Trunkenbold, der im Keller eingemauert werden soll, auf der anderen Seite der freundliche, aber hinterhältige Gastgeber, der zum Genuss der Weins aus dem besagten Fass in den Keller bittet – das Ambiente tat das Übrige. Scheer konnte die meisten Zuhörer damit überraschen, dass er im Anschluss von Autor John Jakes, bekannt durch die Reihe „Fackeln im Sturm“, die Fortsetzung der Poe-Geschichte las. In „Die Öffnung der Krypta“, Jahrhunderte später angesiedelt, beschreibt ein Nachfahre aus der Ich-Perspektive, wie der Eingemauerte hin zu sich in die Gruft ruft. Begonnen hatte Scheer den Abend, der unter dem Motto „Weinleichen“ stand, mit der Kurzgeschichte „Tod eines Weinkritikers“ von Anne Chaplet. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die Autorin Cora Stephan. „Ich fand hier weniger die Krimi-Story spannend, sondern die detaillierte Beschreibung der Welt der Weinverkostungen“, begründete Scheer seine Auswahl. Die Geschichte ist der 2003 erschienenen Anthologie „Weinleichen“, die 33 Kurzgeschichten rund um das Thema Wein enthält, entnommen. Den Titel für die erste Lesung in Obrigheim habe er sich ebenfalls entlehnt. Scheer war genau wie Stefan Müsel positiv überrascht vom Zuspruch. „Wir hatten sogar eine komplette Gruppe im Publikum, die sich mit zehn Leuten aus Worms angemeldet hat“, so Müsel. Scheer hatte eine Bücherkiste mitgebracht, aus der sich die Besucher bedienen durften. „Ab und an muss ich Haus und Keller ein wenig entlasten“, begründete Scheer, warum er die Romane an andere weitergibt. Die Krimifreunde saßen noch lange zusammen, hörten weitere Geschichten, genossen den Wein – offensichtlich eine gute Kombination.

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