Grünstadt „Da braucht keiner in die Toskana“

Mit Stadtplan unterwegs: Christiane Reichert und Ralf Jost am nördlichen Stadtmauerring.
Mit Stadtplan unterwegs: Christiane Reichert und Ralf Jost am nördlichen Stadtmauerring.

Bauen nach Norm verabscheut Ralf Jost. „Dann sieht jedes Haus gleich aus“, meint der Architekt vom Büro für Kunst und Denkmalpflege aus Bamberg. Mit seiner Kollegin, Kunsthistorikerin Christiane Reichert, ist er noch diese Woche in Freinsheim auf Spurensuche abseits aller Uniformität. Alle Gebäude im Sanierungsgebiet untersuchen sie auf ihren ortsbildprägenden Charakter. Dabei bedienen sie sich nicht nur eines Feldstechers, einer Karte, einer Kamera und eines Tablets: Um sich insbesondere einen Eindruck von den Rückgebäuden so mancher Häuser zu verschaffen, ließen sich die beiden am Montag mangels Drohne von der Feuerwehr per Drehleiter nach oben fahren, um Fotos zu machen. Die Aufnahmen aus luftiger Höhe sollen auch dabei helfen, die Stadt in Quartiere aufzuteilen. „Wir arbeiten die Besonderheiten der Quartiere heraus, wollen ein Gefühl dafür vermitteln, welches Haus in welches Quartier passt und warum“, erläutert Reichert. Ein Quartier werde zum Beispiel durch die Hauptstraßenzüge zwischen den beiden Stadttoren gebildet. Dort befinden sich die großen Gebäude des wohlhabenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Richtung Stadtmauer werde die Bebauung immer kleinteiliger. „Kleinere Leute von Handwerkern bis zu Tagelöhnern haben sich hier früher angesiedelt“, schildert Jost. Wobei die Martinstraße wie die Wallstraße eine Mischung aus beiden Bevölkerungsschichten angezogen hat. Was die Straßen für Reichert und Jost auch so interessant machen. „Hier lohnt es sich, in kleine Gassen oder in geöffnete Tore zu blicken. Da braucht keiner in die Toskana zu fahren“, schwärmt Reichert. Giebelständige, zur Straße ausgerichtete Häuser prägen in der Martinstraße das Bild. Ein weiteres Quartier werde durch die Bereiche direkt an der Stadtmauer gebildet (Kitzig, An der Bach, beide Ringstraßen). Schiefwinklige, überformte, kleinteilige Häuser dominieren hier. „Die Besitzer haben alles versucht, um ihr Haus zu vergrößern“, so Reichert. Hinter der Stadtmauer befindet sich das, was Reichert „das erste Freinsheimer Neubaugebiet“ nennt: Moderne Stadterweiterung in Form von Querstraßen zwischen Wall- und Wenjenstraße. Eine nördliche Erweiterung im 19. Jahrhundert zunächst, weil dort die Flächen lagen, die landwirtschaftlich nicht genutzt wurden. Die ältesten Häuser im Stadtkern stammen laut Jost aus dem 18. Jahrhundert. „Daran ist der pfälzische Erbfolgekrieg schuld. 1689 wurde alles bei einem großen Feuer zerstört“, erklärt Bürgermeister Matthias Weber. Beim Blick rund um den Marktplatz fällt ihnen auf, wie filigran der spätere Dachausbau mit Gauben erfolgt ist. „Früher hatten Handwerker mehr Gespür für etwas, sie haben sich dem geschwungen auslaufendem Dach angepasst. Heute wird alles einfach quadratisch draufgesetzt, wobei dadurch ein Haus auch in seinem Erscheinungsbild erdrückt werden kann“, erklärt Reichert. Auch Jost bedauert, dass traditionelles Handwerkerwissen nicht mehr gelehrt werde. „Dabei braucht man dafür gar keine teuren Materialien. Aber heute rennt nur jeder in den Baumarkt, um das zu kaufen, was industriell vorgefertigt ist“, beklagt Jost. So habe ein Malermeister, der in den 50er Jahren ausgebildet wurde, noch einen viel höheren künstlerischen Anspruch gehabt.

Blick in einen geschmückten Hof in der Martinstraße.
Blick in einen geschmückten Hof in der Martinstraße.
Kleiner Kellereingang in der Martinstraße.
Kleiner Kellereingang in der Martinstraße.
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