Politik Helmut Kohl: Pfälzer, Deutscher und Europäer

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Helmut Kohl bei der Feier zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Berlin.

Die Pfalz trauert um ihren heimatverliebten europäischen Weltbürger Helmut Kohl. Ein Nachruf.

Schlüsselszenen eines politischen Lebens: „Michail Sergejewitsch – es ist gut, dass Sie mit den Deutschen sprechen und mit ihnen Frieden machen.“ Ein Kriegsveteran sagt das fast beschwörend zu Michail Gorbatschow, als der sowjetische Staatspräsident mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl am Ehrenmal für die Kriegstoten im kaukasischen Stavropol einen Kranz niederlegt. Es ist kaum mehr als ein Augenblick an diesem schwül-heißen 16. Juli 1990, aber doch einer, der tiefe Wirkung entfaltet. Gorbatschow und Kohl, die Kriegstote in ihren eigenen Familien hatten, sind erkennbar gerührt. Wenige Stunden später werden die beiden in einer Datscha im Dörfchen Archys die letzten großen Hindernisse auf dem Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und zum Ende des Kalten Krieges aus dem Weg räumen. Danach hatte es die Monate zuvor überhaupt nicht ausgesehen. Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse waren empört über Kohls am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag vorgetragenen Zehn-Punkte-Plan zur gemeinsamen Zukunft Deutschlands. „Selbst Hitler hat sich so etwas nicht geleistet“, donnerte Schewardnadse. Und Gorbatschow schimpfte: „Kanzler Kohl behandelt die Bürger der DDR schon wie seine Untertanen. Das ist ganz einfach offener Revanchismus.“

"Wir schaffen die Einheit. Die Menschen wollen das."

Doch kaum drei Wochen nach dieser Empörung sorgte ein anderes Ereignis für Beruhigung im Kreml: Während Kohls Treffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow in Dresden versammeln sich vor der Ruine der Frauenkirche Hunderttausende Menschen. Die Stimmung ist aufgewühlt, unkalkulierbar. Würden sie gar vor aller Welt die erste Strophe des Deutschlandliedes singen? Kohls Leute holen den Dresdener Kantor auf die Tribüne, damit er – falls nötig – den Choral „Nun danket alle Gott“ anstimme. Kohl hält die schwierigste und wichtigste Rede seines Lebens. Sie dauert 16 Minuten, ist höchst emotional und ruft doch zur Besonnenheit auf. „Gott segne unser deutsches Vaterland“, endet Kohl. Der Jubel ist unbeschreiblich. Alles ist friedlich. Nationalistische Parolen bleiben aus. Beobachter und Diplomaten in aller Welt zollen Kohl Respekt. Der sitzt nachts im Hotel und sagt: „Ich glaube wir schaffen die Einheit. Ich glaube das ist nicht mehr aufzuhalten, die Menschen wollen das.“ Und so kommt es dann auch.

Glanzleistungen einer dramatischen Zeitenwende

Der Zehn-Punkte-Plan, die Rede vor der Dresdener Frauenkirche, die Verhandlungen im Kaukasus: Es sind Helmut Kohls Glanzleistungen in dieser dramatischen Zeitenwende 1989 und 1990. Da ist er, dessen privates und berufliches Leben ja beileibe keine Aneinanderreihung von Erfolgen ist, über sich hinaus gewachsen. So ist er zum Kanzler der Einheit geworden. Er hatte im entscheidenden Moment nach Charles de Gaulles Maxime gehandelt „N’écoutez que vous-meme – Hören Sie nur auf sich selbst“ und hatte das Glück des Mutigen. Selbst einer der härtesten Widersacher Kohls, Altbundeskanzler Helmut Schmidt, zollt ihm dafür Respekt: „Es ist ganz eindeutig: Ohne Kohl wäre die Chance zur Vereinigung beider deutscher Staaten 1989/90 nicht genutzt worden.“Als Helmut Kohl 1998 im 16. Jahr seiner Kanzlerschaft war, konnten sich viele, insbesondere jüngere Menschen nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ein anderer in Deutschland Bundeskanzler würde. Heute, nach sieben Jahren Kanzlerschaft Gerhard Schröders und fast zwölf Jahren mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, kann man sich kaum noch vorstellen, dass einer wie Kohl Deutschland regierte. Der Pfälzer verkörperte seine Politik, stellte sie nicht nur dar. Er war der letzte Regierungschef, der noch vom unmittelbaren Erleben des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Diktatur geprägt war. Darin begründete sich die Emotion, mit der er für die Aussöhnung mit Frankreich, Polen und Israel und für die Freundschaft mit den USA warb.

Archetyp des deutschen Nachkriegs-Politikers

Kohl war Demokrat und Anhänger der sozialen Marktwirtschaft aus historischer Überzeugung. Weil es ihm gelang, Konrad Adenauers Westbindung mit Willy Brandts Ostpolitik zu verbinden, weil er Oskar von Nell-Breunings Soziallehre mit Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft verband, regierte er 16 Jahre lang von 1982 bis 1998. Kohl ist der Archetyp des deutschen Nachkriegspolitikers.

Kein Liebling der Massen

Auch sein bürgerlicher Lebensstil, der unbeeindruckt blieb vom libertinären Aufbruch der 68er Generation, war typisch für das Lebensgefühl der Mehrheitsgesellschaft. Kohl war nie ein Liebling der Massen und schon gar nicht der Medien. Aber man vertraute ihm. Er war kein Schauspieler der Politik, sondern stellte sich dar, wie er war. Nur um im Fernsehen gut rüberzukommen, hätte er sich nicht verbogen. Er war stolz auf sein Elternhaus, seine Familie, seine Heimat. Viele erwarteten von ihm, was er überhaupt nicht zu erfüllen gedachte: staatsmännische Attitüde statt bürgerlicher Normalität, geschliffenes Hochdeutsch statt pfälzischen Idioms, landsmannschaftliche Neutralität statt natürlicher Bodenständigkeit, glanzvolle Rhetorik statt einfacher Sprache.

Ein Stil der Normalität und Bürgerlichkeit

Es ist paradox. Aber Kohls lange Haltbarkeit als Regierungspolitiker hat durchaus damit zu tun, dass viele Journalisten ihn für provinziell hielten und er kein Liebling der Massen war. Denn unter diesen Vorzeichen waren seine Chancen, Medien und Bürger positiv zu überraschen, viel größer. Kohl arrangierte sich geschickt damit, unterschätzt zu werden. Und über die Jahre kam es sogar zu so etwas wie einer stillschweigenden Koalition zwischen den Bürgern und dem Menschen Kohl, denn wer Kohl einen Mief des Provinziellen vorwarf, der beschimpfte damit zugleich die Mehrheit der Wähler, von denen viele zwar gegen Kohls Politik etwas einzuwenden hatten, nichts aber gegen seinen Stil der Normalität und Bürgerlichkeit. Auch deshalb wurde er vier Mal als Kanzler wiedergewählt.

Visionär der Einigung Europas

Freilich wäre das ohne handfeste politische Erfolge nicht möglich gewesen. Der Mann aus Ludwigshafen hatte sie. Als er im Herbst 1982 vom Bundestag zum Kanzler gewählt worden war, startete er so, wie er als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz 1969 begonnen hatte: als Sanierer und Reformer. Seine Bundesregierung baute die Staatsverschuldung ab und dämmte die Inflation ein. Sie privatisierte Staatsunternehmen, förderte die Familien und die Frauen, reformierte die Renten und die Gesundheitspolitik. Kohl setzte den „Nato-Doppelbeschluss“ durch, an dem sein Vorgänger Helmut Schmidt gescheitert war. Und Kohl überwand die „Eurosklerose“, die Krise der Einigung Europas. Ohne diese Erfolge wäre er schwerlich zum Kanzler der Deutschen Einheit geworden. Ihm gelang es, den Aufstand der Menschen in den osteuropäischen Ländern und der DDR gegen die kommunistischen Regime in gestaltende Politik umzuwandeln. Er nutzte dazu sein Netzwerk an Freundschaften mit François Mitterrand, George Bush, Michael Gorbatschow, Felipe Gonzàlez und Jacques Delors. Er schaffte es, weil er von Anfang an ein Visionär der Einigung Europas war, der außerhalb jeden Verdachts stand, nationalistische Interessen zu hegen. In der dramatischen Phase der Vereinigung Deutschlands und der Neuordnung Europas wurde Helmut Kohl zu einem Staatsmann, international angesehen wie kaum ein anderer deutscher Politiker zuvor. Er bekam höchste Orden und Ehrungen in aller Welt.

Ein cholerischer Machtmensch

Aber solcher Höhenflug hat seine Tücken. Sicher: Sein Machtinstinkt hat ihm ganz wesentlich zu seiner langen Regierungszeit verholfen. Aber mit den Jahren regierte er – ohne es selbst zu merken – immer weniger um der Sache und immer mehr um der Macht willen. Er erlag einigen ihrer Versuchungen. Nicht, dass er sie zur persönlichen Zurschaustellung oder gar zur Selbstbereicherung missbraucht hätte. Da passte er akribisch auf. Aber er pachtete die Macht für sich allein, ließ sich immer weniger beraten, ertrug kaum noch Kritik, wurde ungeduldig. Kohl, der Choleriker, wurde misstrauischer, teilte leichthin in Gut und Böse, wurde nachtragend. Sein Spott war immer seltener ironisch, immer öfter verletzend. Kohl hörte weniger zu, redete immer mehr selbst, redete sich seine eigene Wirklichkeit herbei.

Überdruss am ewigen Kanzler

Ab Mitte der 90er Jahre verursachte Kohls Regierungstechnik des unbedingten Machterhalts im Verein mit der Blockade-Mehrheit der SPD im Bundesrat einen Reformstau und einen Überdruss am Kanzler Kohl in der Bevölkerung. Sich selbst nicht mehr kritisch genug betrachtend, verpasste er den richtigen Zeitpunkt für seinen Abgang. Überzeugt davon, nur er könne den Euro in die Tat umsetzen, gewährte er Wolfgang Schäuble nicht die Kanzlerkandidatur für die Wahl 1998. Mit der Attitüde eines Monarchen erklärte er der Nation via Fernsehen, dass er erneut antreten werde, ohne seine Partei überhaupt um Zustimmung gebeten zu haben.

Als erster Bundeskanzler vom Volk abgewählt

Helmut Kohl war der erste Bundeskanzler, der vom Volk abgewählt wurde. Weil aber sein Nachfolger Gerhard Schröder mit seiner rot-grünen Koalitionsregierung einen denkbar schlechten Start hatte, erlebte der Pfälzer bald eine Renaissance. Er wurde als „elder statesman“ und als Ehrenbürger Europas gefeiert. Sein Ansehen erreichte neue Höhen – bis Ende 1999 die Parteispendenaffäre aufgedeckt wurde und Kohl einen jähen Absturz seiner Popularität erleben musste. Er hatte sich selbst nicht bereichert, doch er hatte gegen das Parteiengesetz verstoßen und als CDU-Vorsitzender mit einer schwarzen Spendenkasse nach eigenem Gutdünken Geld verteilt. Dass er mit dieser Kasse innerparteilich seine Macht abgesichert habe, diesen Vorwurf konnte er schwerlich von der Hand weisen.

Die Spendenaffäre und die erschütterte Glaubwürdigkeit

Die Art, wie er sich verteidigte, wie er darauf bestand, dass ihm sein Ehrenwort gegenüber den Spendern, sie nicht zu nennen, wichtiger sei als die den ganzen Sachverhalt aufklärende Wahrheit, die war symbolisch für den späten Kohl. Die Spendenaffäre erschütterte seine Glaubwürdigkeit. Er, der immer für Demokratie und Recht eingetreten war, hatte selbst die innerparteiliche Demokratie missachtet und gegen ein Gesetz verstoßen. Die CDU ging, angeführt von Angela Merkel, schnell und entschieden auf Distanz zu ihm. Tief enttäuscht gab er seinen Ehrenvorsitz zurück.

Dem Amt alles untergeordnet

Kohl hat sein Ehrenwort gegenüber den Spendern niemals gebrochen. Den der Partei entstandenen materiellen Schaden hat er mit privaten Mitteln und der finanziellen Hilfe von Freunden und Gönnern wieder gutgemacht. Die Partei hat ihm verziehen. Längst ist sie wieder stolz auf ihn. International hat Kohls Ansehen unter der Spendenaffäre sowieso kaum gelitten. Helmut Kohl hat dem Amt des Bundeskanzlers letztlich alles untergeordnet, sogar seine Familie. Sein Privatleben konnte gar nicht normal sein. Als der Terror der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) die Bundesrepublik in den 70er und 80er Jahren im Würgegriff hatte, galten für Kohl, seine Frau und ihre beiden Söhne strengste, ihr Leben einschränkende Sicherheitsmaßnahmen. Kohl schützte seine Familie zwar vor den Medien, fand aber immer weniger Zeit für seine Aufgaben als Ehemann und Vater. Hannelore Kohl, seine ebenso kluge wie sensible Frau, litt darunter, viel mehr als ihr Mann es ahnte. Sehnlich hatte sie sich gewünscht, dass ihr Mann 1998 auf eine erneute Kanzlerkandidatur verzichtet. Als Ende 1999 die Spendenaffäre kam, verzweifelte sie über die Angriffe auf ihren Mann und gegen ihre Familie. Hannelore Kohl war schon länger ernsthaft erkrankt. Am 5. Juli 2001 nahm sie sich das Leben. Wenige Jahre später zerbrach Kohls Beziehung zu seinen beiden Söhnen. Seit Helmut Kohls Hochzeit mit Maike Richter im Jahr 2008 „sind die Mauern um seine Burg höher und fester denn je“, beschrieb der ältere Sohn Walter einmal das Verhältnis zu seinem Vater und dessen zweiter Frau. Es hat sich zu Lebzeiten Kohls nicht mehr zum Besseren gewendet.

Mit Leidenschaft für die deutsch-französische Aussöhnung

Helmut Kohl hat Geschichte geschrieben: als Kanzler der Wiedervereinigung, als Kanzler der Einigung Europas. Kohls Biografie ist der Schlüssel, seinen außerordentlichen Erfolg als Politiker zu verstehen. Am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein geboren, erlebte er in seiner katholischen, aber liberalen und gemäßigt nationalen Familie als junger Mensch das Dritte Reich und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, in dem sein vier Jahre älterer Bruder gefallen war. Der junge Kohl gehörte zu jenen, die in den 50er Jahren die Grenzpfähle zwischen der Pfalz und dem Elsass niederreißen wollten, die mit Leidenschaft für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen und für eine europäische Einigung eintraten. Seine Herkunft hat er nie verleugnet. Im Gegenteil: Mit Stolz bekannte er sich zu seiner pfälzischen Heimat. Als Bundeskanzler lud er mit ihm befreundete Staats- und Regierungschefs in die Pfalz ein, zeigte ihnen den Speyerer Dom, aß mit ihnen Saumagen und trank mit ihnen Pfälzer Wein.

Der Traum vom dauerhaften Frieden

Der Politiker Kohl verkörperte einen Dreiklang: Pfälzer, Deutscher, Europäer. Es war ein harmonischer Dreiklang. Der Pfälzer wollte ein Deutscher sein, der endlich und dauerhaft in Frieden mit den Nachbarnationen lebt, der keinen Krieg mehr fürchten muss und dessen Europa zum Vorbild für Freiheit und Demokratie in der Welt wird. Helmut Kohl hat so viel wie kaum jemand anderer dazu beigetragen, dass die Pfalz, Deutschland und Europa diesen Zielen große Schritte näher gekommen sind. Womöglich hat ja die aktuelle Krise Europas auch damit zu tun, dass es Politiker vom Schlage Helmut Kohls heute nicht mehr gibt. Bill Clinton, einer der großen Präsidenten der USA, nannte den deutschen Bundeskanzler aus der Pfalz den „bedeutendsten europäischen Staatsmann seit dem Zweiten Weltkrieg“. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es so ähnlich auch einmal in den Standardwerken über die Geschichte des 20. Jahrhunderts stehen wird.

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Ein eregnisreiches politisches Leben: Helmut Kohl.
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