Rheinpfalz Blanke Wut und tiefe Trauer

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Der gewaltsame Tod eines zwei Monate alten Mädchens lässt in sozialen Netzwerken wie Facebook die Gefühle überschießen. Neben vielfältig geäußerter Anteilnahme machen Nutzer dort ungebremst ihrem Hass auf den mutmaßlichen Täter Luft. Medienexperten ordnen das Phänomen ein.

FRANKENTHAL. Wer den Spuren der Ereignisse vom Pfingstwochenende in die sozialen Netzwerke folgt, der stößt rasch auf zwei Gruppen: Menschen, übrigens auffällig viele Frauen, die unter dem Eindruck der Nachricht vom gewaltsamen Tod des zwei Monate alten Babys Trauer und Anteilnahme ausdrücken wollen – mit einem kurzen „RIP“ (englisch: Rest in Peace, deutsch: Ruhe in Frieden) oder auch aufwendig mit Bildern und kleinen Texten. Und dann gibt es Menschen, unter ihnen auffällig viele Männer, aus deren Äußerungen bei Facebook die blanke Wut spricht. Vom grundsätzlichen Zweifel an den Mechanismen des Rechtsstaats über den Ruf nach der Todesstrafe bis hin zu Folter- und Tötungsfantasien reicht die Bandbreite dessen, was seit Pfingstsamstag geschrieben wurde. Schilderungen von angeblichen Mitgliedern der Familie des Opfers mit Details zum Ablauf der Tat befeuern diese Entwicklung ebenso wie die Berichterstattung des Boulevards und einer Vielzahl elektronischer Medien. Und so ist es nicht nur die Brutalität der Tat selbst, bei der ein Vater seine kleine Tochter mutmaßlich durch einen Wurf aus dem zweiten Stock ums Leben bringt, sondern auch die Wucht der Reaktion auf die Ereignisse vor allem in den Foren des Internets, die dieses Verbrechen als im negativen Sinn besonders kennzeichnet. Eine Sprecherin des Polizeipräsidiums Rheinpfalz in Ludwigshafen, die den Fall seit dem Wochenende eng begleitet, nennt das mit der Verbreitung unzähliger Gerüchte verbundene Phänomen eine „zusätzlich erhebliche Belastung für meine Arbeit“. Sie kann sich an keinen Vorfall, kein Unglück erinnern, das eine ähnliche Wirkung in den sozialen Medien entfaltet hat. Frank Schwab, Inhaber des Lehrstuhls für Medienpsychologie an der Universität Würzburg, hat auf Basis seiner Forschungsarbeit eine sehr naheliegende Erklärung für die medialen Gefühlsausbrüche: Wenn Kinder Opfer eines Verbrechens würden, aus Sicht eines Erwachsenen also vollkommen schutz- und schuldlose Wesen, dann wecke das besonders starke Emotionen. Weil das Internet mit seinen sozialen Netzwerken die Welt zum Dorf verwandelt, werden diese Emotionen sehr viel weiter getragen als früher, sagt der gebürtige Westpfälzer. Das heißt: Selbst Menschen ohne räumlichen oder persönlichen Bezug zum Ereignis folgen dem spontanen Impuls und äußern sich zu dem Vorfall – inzwischen tausendfach. „Das kann dazu führen, dass sich Menschen etwas zu zuständig fühlen“, sagt Schwab. Mit anderen Worten: Sie überschreiten mit der Anteilnahme und ihrem Wunsch, den Angehörigen des Opfers Trost zu spenden, Grenzen. Die neuen Medien fördern nach Einschätzung des Experten solche Exzesse, indem sie Kommunikationsbarrieren abbauen. Praktisch bedeutet das beispielsweise: Mit der Möglichkeit, per Facebook zu Veranstaltungen einzuladen, ist ruckzuck eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und zu mobilisieren. So schwappt dann die virtuelle Betroffenheit ins echte Leben – wie am Dienstagabend bei der von einer privaten Initiative organisierten Gedenkfeier am Tatort in der Frankenthaler Kantstraße. Nach offizieller Schätzung der Polizei versammelten sich bis zu 500 Besucher um ein mit Kreide auf die Straße gemaltes Herz – ein Akt kollektiven Trauerns. Im krassen Gegensatz zu dieser Form des Mitgefühls steht die gegen den mutmaßlichen Täter gerichtete Wut, die sich im virtuellen Raum entlädt. Der Grund für diesen Hass ist laut Wissenschaftler Schwab ein ganz schlichter: Dem Menschen falle es unter dem Eindruck bestimmter Delikte – etwa Verbrechen an Kindern oder Vergewaltigungen – schwer zu akzeptieren, dass deren Verfolgung und Bestrafung im Rechtsstaat an dessen Organe „outgesourct“ sind, wie es der Medienpsychologe formuliert. In solchen Fällen werde Vergeltung als fair empfunden. „Die Gefühlslage ist dann nicht mit dem Rechtssystem kompatibel“, sagt Schwab. Hinzu kommt nach seinen Forschungsergebnissen ein gruppendynamischer Prozess: Wer in sozialen Netzwerken das Amoralische attackiere, gewinne an Ansehen im Kreis der Nutzer, erfahre Bestätigung. Der Applaus Gleichgesinnter muss nicht unbedingt Verständnis seitens der Strafverfolgungsbehörden bedeuten. Selbst wenn Nutzer Foren wie Facebook als rechtsfreien Raum betrachteten, ist dort noch längst nicht alles erlaubt. Allerdings erschwert der Umstand, dass viele ihre Statements gar nicht unter ihrem richtigen Namen veröffentlichen, die Kontrolle, wie Medienrechtler Kurt Braun erklärt. Betroffene könnten sich mit Anzeigen gegen Beleidigungen wehren, müssten dann aber über die Staatsanwaltschaft bei Facebook eine Freigabe der Nutzerdaten erwirken – kein ganz leichtes Unterfangen. Definitiv ein öffentlicher Anlass zur Verfolgung sind Braun zufolge Beiträge, die zu Straftaten aufrufen, beispielsweise der Tötung eines Tatverdächtigen. Wer die Kommentare auf lokalen und überregionalen Seiten durchkämmt, landet bei grenzwertigen Äußerungen wie: „Der soll im Knast nicht zu kurz kommen. Wäre mein Onkel noch drin, der hätte ihm mal guten Tag gesagt. Bastard!“ Oder: „Geht mit ihm in den 13. Stock und tut dasselbe, dann sparen wir viel Geld. Und der Schreibkram wird auch nicht soviel!!!!“ Oder: „Der bekommt vier Jahre und wir wissen warum. Neun Millimeter wäre meine Lösung.“ Frank Schwab warnt allerdings davor, das Geschehen im Netz mit der Wahrnehmung der Ereignisse in der breiten Bevölkerung gleichzusetzen. „Es handelt sich hier nicht um eine repräsentative Stichprobe, sondern um eine ausgewählte Öffentlichkeit“, sagt der Medienpsychologe. Aber: Wenn Gefühle in Worte gefasst würden, sei die Wirkung stärker und einprägsamer. Schwab belegt das mit einem Beispiel aus seiner akademischen Praxis: Wenn von 20 Teilnehmern eines Seminars zwei oder drei die Veranstaltung schlecht bewerteten, bleibe das stärker haften als das Lob der anderen. Kommentar

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