Rheinpfalz Mehr als ein Raketen-Girl: die Mathematikerin Katherine Johnson

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Astronauten wie John Glenn und Neil Armstrong sind in den 1960er Jahren die Gesichter der amerikanischen Raumfahrt. Doch möglich machen die Mondlandung unter anderem Leute wie die Mathematikerin Katherine Johnson. Als eine der ersten Frauen arbeitet die Afroamerikanerin bei der Flugforschung der Nasa – zu einer Zeit, als vielerorts noch Rassentrennung herrscht.

Zahlen, endlose Reihen mit Ziffern, Plus- und Minuszeichen, Bruch- und Prozentrechnung, Funktionen und Ableitungen, auf Papier, an der Tafel, auf dem Display des Taschenrechners: Mathematik gehört für viele Schüler zu den schwierigsten und ungeliebtesten Fächern. Eines, das sie am liebsten ausgespart hätten oder aber zumindest später nie wieder richtig anpacken. Für Katherine Johnson ist das genaue Gegenteil der Fall: Mathematik ist ihre Welt. Johnson wird am 26. August 1918 geboren und wächst im US-Bundesstaat West Virginia auf. Ihre Begeisterung für Zahlen und ihre Begabung für Mathematik erkennen ihre Eltern schon im Grundschulalter. „Ich zählte Schritte. Ich zählte die Teller, die ich abwusch. Ich wusste, wie viele Schritte es von unserem Haus zur Kirche waren“, sagt die US-Amerikanerin später in einem Interview. Den Schulbeginn kann sie kaum erwarten. Eines Tages geht sie mit ihrem großen Bruder in dessen Klasse. Lesen kann sie schon, die Lehrer lassen sie daher am Unterricht teilnehmen. Als sie mit sechs Jahren eingeschult wird, darf sie die erste Stufe überspringen.

Viele Jobs gab es für sie anfangs nicht

Ihre Leidenschaft für Zahlen macht sie schließlich zum Beruf: Als Mathematikerin bei der National Aeronautics and Space Administration, der Nasa, berechnet Katherine Johnson ab 1953 die Flugkurven für die bemannten Weltraummissionen der Amerikaner in den 50er und 60er Jahren. Sie prüft die zuvor kalkulierten Daten, hinterfragt und interpretiert sie im Zweifelsfall neu. Ihre Karriere bei der Raumfahrtbehörde, dass sie überhaupt studiert, ist für sie nicht absehbar. Denn Johnson wächst zur Zeit der Rassentrennung in den USA auf – und in ihrem Heimatort White Sulphur Springs ist für schwarze Schüler wie sie nach der achten Klasse Schluss und somit ein Besuch der Highschool nicht mehr möglich. Doch Vater Joshua ist die Bildung seiner Kinder wichtig, und so schickt er seine begabte Tochter und ihre Geschwister ans West Virginia Collegiate Institute, rund 200 Kilometer von der Heimatstadt entfernt. Dort arbeitet Katherine weiter fleißig, bis sie vor der Wahl eines Hauptfachs steht: Sie muss sich zwischen Englisch, Mathematik oder Französisch entscheiden. Augenzwinkernd erzählt Johnson in einem Nasa-Gespräch von der Drohung ihrer Mathelehrerin: „Ich werde dich finden, wenn du nicht in meine Klasse kommst.“ Von da an verlässt sie die Welt der Zahlen nicht mehr.

In der Schule stellte sie Fragen, damit andere etwas verstanden

Mit 14 Jahren macht Johnson ihren Highschool-Abschluss und besucht danach das West Virginia College. Schnell hebt sie sich von ihren Kommilitonen ab. Ihr Professor und Mentor, William Schiefflin Claytor, unterstützt Johnsons Laufbahn als Forscherin: „Er kam in den Raum und setzte seine vorangegangene Stunde fort. Manchmal konnte ich sehen, dass die anderen ihn nicht verstanden. Also stellte ich Fragen, um ihnen zu helfen. Er sagte, dass ich die Antwort wissen müsste, und ich antwortete, dass dies richtig sei, aber die anderen nicht.“ So erzählt es Katherine Johnson viele Jahre später in einem Gespräch mit ihrem früheren Arbeitgeber. Vielleicht dämmert Johnson gerade in solchen Momenten, dass auch sie selbst als Lehrerin geeignet wäre. Als Afroamerikanerin ist das nach dem Bachelorabschluss – den sie mit 18 Jahren mit Auszeichnung macht – damals eigentlich die einzige Möglichkeit, die erworbenen mathematischen Kenntnisse beruflich zu nutzen. Doch sie sieht ihre Zukunft nicht in der täglichen Arbeit mit einem Stück Kreide in der Hand vor der Tafel. Sie studiert – als eine der ersten drei afroamerikanischen Studenten an der bisher Weißen vorbehaltenen West Virginia University. Möglich macht das ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten: Es schreibt vor, dass Bundesstaaten, in denen es nur eine Universität gibt, auch schwarze Studenten an dieser Hochschule zulassen werden müssen – oder aber es muss für sie eine eigene Hochschule geschaffen werden.

Computer mit Röcken

Durch Zufall erfährt Katherine Johnson Anfang der 1950er Jahre von einer Stellenanzeige der National Advisory Committee for Aeronautics (Naca), der Organisation, aus der 1958 die Nasa hervorgeht. Man sucht: schwarze Frauen, die rechnen können. Johnson bewirbt sich und bekommt den Job. „Computer mit Röcken“ werden Johnson und ihre Kolleginnen fortan genannt. Dass sie es bei der Nasa schließlich bis in die Abteilung für Flugforschung schafft, ist bei ihrem zweifachen Handicap erstaunlich: Als Frau in einer Männerdomäne und als Afroamerikanerin wird Katherine Johnson nicht sofort in allen Bereichen akzeptiert. Bis 1958 gibt es bei der Behörde separate Büros, separate Toiletten und einen separaten Essensbereich für die schwarzen Mitarbeiter. Mit ihren Kolleginnen Dorothy Vaughan, Annie Easley und Mary Jackson erkämpft Johnson Gleichberechtigung für die Frauen, die ihre Arbeit im Hinterzimmer erledigen für die prominenten Astronauten-Kollegen im Rampenlicht. Ohne das jemals an die große Glocke zu hängen oder groß darüber nachzudenken: „Dafür hatte ich keine Zeit“, erinnert sie sich später. Die Arbeit und ihre Familie – Katherine Johnson bekommt mit ihrem ersten Ehemann drei Kinder – nehmen sie in Anspruch. Immer dann, wenn im Nasa-Windkanal die Düsen aufgedreht werden, schlägt ihre Stunde. Sie wertet die Daten aus und stellt sie grafisch dar. Und das macht sie gut. Nach nur wenigen Wochen wird sie zusammen mit einer Kollegin an die Abteilung für Flugforschung „ausgeliehen“. Dort ist sie neugierig, stellt Fragen und gibt sich nicht mit der täglichen Arbeit zufrieden: „Wieso nehmen Frauen nicht an den regelmäßigen Besprechungen teil? Gibt es ein Gesetz, das dies verbietet?“ So sitzt Johnson fortan in den entsprechenden Meetings, lernt dazu und bringt ihre Kenntnisse der analytischen Geometrie in die Runden ein.

Im Mercury-Programm schreibt sie Raumfahrtgeschichte

Mit den Berechnungen für das Mercury-Programm, das erste bemannte Raumfahrtprogramm der Vereinigten Staaten, schreibt Katherine Johnson Raumfahrtgeschichte. Sie sind die Grundlage für den zweiten bemannten Weltraumflug von Alan Shepard im Jahr 1961. Der im Dezember 2016 gestorbene John Glenn, ebenfalls Astronaut im Mercury-Programm, bittet Katherine Johnson ein Jahr später darum, die berechnete Umlaufbahn seiner Rakete zu prüfen, die ihn in der Mercury-Atlas-6-Mission als ersten Amerikaner einmal rund um die Erde bringen soll. Beide Missionen gelten als wichtige Vorbereitungsflüge auf dem Weg zur Mondlandung. Nachdem die UdSSR mit Hündin Laika das erste Lebewesen, mit Juri Gagarin den ersten Menschen und mit Walentina Tereschkowa die erste Frau ins All gebracht hat, wollen die USA den ersten Menschen auf den Mond schicken und wieder zurückholen – und das noch vor Ende des Jahrzehnts, wie Präsident John F. Kennedy im Mai 1961 verkündet. 1969 machen die Amerikaner ihr Versprechen wahr und stechen die Sowjetunion aus beim Wettlauf ins All. Daran ist Katherine Johnson ebenfalls beteiligt. Sie berechnet für die Apollo-11-Mission die Umlaufbahn und verhilft Neil Armstrong dazu, dass er am 21. Juli 1969 auf der Mondoberfläche sagt: „Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit.“ Später wirkt die Mathematikerin an ersten Plänen für eine Mission zum Nachbarplaneten Mars mit.

Nach der Pensionierung besucht sie Schulen, um Mädchen für Naturwissenschaften zu begeistern

1986 ist für Johnson nach 33 Jahren Nasa-Dienst Schluss, sie geht in Rente. Mit Zahlen geht Johnson aber weiter hausieren, sie besucht Schulen und Universitäten, um junge Frauen für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. 2016 ehrt die Nasa Johnson mit einem neuen Rechenzentrum. Ein Jahr zuvor hatte Barack Obama sie bereits mit der Presidential Medal of Freedom ausgezeichnet, eine der höchsten Auszeichnungen, die Zivilisten in den Vereinigten Staaten erhalten können. Bis heute kann Katherine Johnson nicht vom Zählen lassen: „Oh ja. Und Dinge müssen parallel sein. Ich sehe ein Bild, das schief hängt, also hänge ich es gerade. Dinge müssen ihre Ordnung haben“, sagt sie, inzwischen 98 Jahre alt.


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Die Geschichte von Katherine Johnsonund ihren KolleginnenDorothy Vaughan und Mary Jackson erzählt Margot Lee Shetterlyin ihrem Buch „HiddenFigures“, das im September 2016 erschienen ist. Der Arbeitafroamerikanischer Mathematikerinnenbei der Nasa widmet sich außerdem Nathalia Holt in „Rise of theRocket Girls“. snk

Johnson im Jahr 1966 an ihrem Arbeitsplatz im Langley Research Center der Nasa in Virginia.
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