Politik Angela Merkel im Porträt: Eine Frage des Stils

Parteienprofile (5): Angela Merkel regiert seit 2005. Nun tritt sie erneut als Frontfrau der CDU für die Bundestagswahl am 24. September an. Es wird vermutlich ihre letzte Spitzenkandidatur sein. Was treibt die 63-Jährige nach zwölf Jahren Kanzlerschaft noch an? Visionen können es nicht sein, wie einst bei ihren Vorgängern Helmut Kohl, Willy Brandt oder Konrad Adenauer. Aber was ist es dann? Der Versuch einer Annäherung.

Parteitag der Linken, Hannover, Juni 2017. Abseits an einem Bistrotisch, Gedankenaustausch mit einem Linken-Bundestagsabgeordneten. Er fragt sinngemäß: „Hat denn Angela Merkel gar keine Visionen?“ – Antwort: „Visionen? Wäre mir neu!“ – „Aber was treibt die denn an?“ Eine Geschichte über die Kanzlerkandidatin der CDU mit einer Episode auf dem Parteitag der Linken zu beginnen, mag unorthodox sein. Aber die Frage nach Angela Merkels Triebfeder ist berechtigt, egal, wer sie stellt. Denn eine zutreffende Antwort würde vielleicht einiges erklären. Ihre Politik, ihren Politikstil. Und warum nach der Bundestagswahl am 24. September die Kanzlerin möglicherweise wieder Angela Merkel heißt. Eines offenbart die Frage des Linken aber ganz gewiss: Wer in Zeiten der Gerhards Schröders, Joschka Fischers, Helmut Kohls oder Helmut Schmidts politisch sozialisiert wurde, der verknüpft die Berliner Manege untrennbar mit Alphatieren und Silberrückengehabe. Manche Westdeutsche, vornehmlich männliche, fremdeln noch immer mit Merkels Stil. Diese Nüchternheit, dieses Abwägen, dieser radikale Pragmatismus, diese Realitätsanpassung, ja, emotionale Teilnahmslosigkeit und diese ideologische Entkernung der Partei ist für manche kaum zu greifen. Dabei regiert Merkel schon seit 2005. Regelmäßig wird sie mit Begriffen wie „Teflon-Kanzlerin“ belegt, an der alles abperle. Aktuell wird ihr vorgeworfen, die Bürger „einzulullen“. Sie entpolitisiere. Derartige Kritik war schon 2013 zu hören – und ist dennoch keine hinreichende Beschreibung ihres Politikstils. Was treibt Merkel an? Kohls Vision war Europas Einigung. Brandts Kanzlerschaft stand unter der Überschrift „Ostaussöhnung“, Konrad Adenauer strebte die Westintegration an. Und Merkel? Letztlich kann nur sie selbst die Frage beantworten. Viel gibt sie bekanntlich nicht preis von ihrem Innenleben. Aber manchmal eben doch etwas. Als das Land im Oktober 2015 wegen des Flüchtlingszustroms verunsichert war, versuchte sie unter Berufung auf den Kirchenmann Reinhard Marx Entwicklungen zu erklären. Sie sagte damals ziemlich umständlich: „Ich gehöre nur zu denen, die sagen: Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: ,Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt’ –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken.“ Die Worte erklären eher Merkel als die damalige Entwicklung. „Herrgott“, „Aufgabe“, „keinen Sinn zu hadern“ – das klingt nicht nach Vision, sondern nach Schicksal. Politik versteht Merkel wohl als das Abarbeiten von Aufgaben, die die Zeit ihr auf den Schreibtisch legt. Und während sie so ihre „Aufgaben“ erledigt, versucht Merkel nicht einmal den Anschein zu erwecken, als habe sie für sich einen politisch-philosophischen Überbau formuliert. Jedenfalls ist er nicht erkennbar. In ihrer ersten Regierungsperiode von 2005 bis 2009 legten die Finanzmärkte Merkel zunächst die Akte „Finanzkrise“ und dann die Akte „Europäische Staatsschuldenkrise“ auf den Tisch. Die Mehrheit der Bürger hat die Finanzakrobatik um aberwitzige Milliardensummen wohl kaum verstanden. Und deshalb war das Vertrauen die Währung, in der die Wählerschaft abgerechnet hat. Merkel genoss Vertrauen. Zwar ist damals mancher Unionist mit geballter Faust in der Tasche herumgelaufen. Konservative Geister haben vernehmlich gegrollt ob Merkels Politik. Aber weder in der schwarz-roten noch in der folgenden schwarz-gelben Regierungszeit war Merkels Mehrheit im Bundestag je gefährdet. Dafür sorgte unter anderem der ergebene CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die Union 41,5 Prozent Zustimmung. Warum genoss Merkel Vertrauen? Vielleicht sind es zunächst die ganz irdischen Dinge – die sie damals nicht getan hat und die ihr bis heute wesensfremd sind. Sie reicht beim Plausch mit den Bossen im Kanzleramt keine extravaganten Zigarren (wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder). Sie käme gar nicht auf die spinnerte Idee, sich Prozentzahlen auf die Schuhsohlen zu kleben (wie ihr späterer Vizekanzler Guido Westerwelle). Sie lässt sich nicht von Großunternehmern in den Urlaub einladen (wie der frühere niedersächsische Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Christian Wulff). Was macht sie stattdessen? Sie lebt wie eh und je in der gleichen Stadtwohnung in Berlin-Mitte. Sie wandert in den gleichen Klamotten urlaubend durch Südtirol wie in den Vorjahren. Ihre Herolde sorgen zuverlässig dafür, dass Wahlkampf für Wahlkampf Merkels Vorliebe für die selbstgekochte Kartoffelsuppe in den bunten Blättern steht: „Ich zerstampfe die Kartoffeln immer selbst mit einem Kartoffelstampfer und nicht mit der Püriermaschine“, zitierte die „Bunte“ unlängst die Kanzlerin. Sie zeigt trotz Spott und Häme unverdrossen die Raute. „Sie kennen mich!“, heißt das auch. Insofern entspricht das öffentliche Bild Merkels in gewisser Weise auch dem der „schwäbischen Hausfrau“ – geerdet, persönlich sparsam, jedem Firlefanz abhold, skandalfrei. Die rhetorische Figur der „schwäbischen Hausfrau“ tauchte erstmals 2008 in ihrer Stuttgarter Parteitagsrede auf und begleitet sie seither. Sie weiß diese Figur auch einzusetzen. In Strasburg in der Uckermark, einem 5600-Seelen-Ort, spricht sie vor Tausend Zuhörern und ein paar Störern. Sie hätte über Donald Trump reden können, über das Weltklimaabkommen und darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schließlich ist sie vom Wirtschaftsmagazin „Forbes“ mehrfach schon zur mächtigsten Frau der Welt gekürt worden. Aber das tut sich nicht. Weil Washingtons Sonderling hier in Strasburg/Uckermark fern und der Landarztmangel nah ist. Der Name ihres Kontrahenten Martin Schulz fällt kein einziges Mal. Merkel spricht über den öffentlichen Personennahverkehr in der Uckermark, über die innere Sicherheit nahe der Grenze, über die Pflege, über die Verlegung von Kabeln für das schnelles Internet. Bei den 7,5 Milliarden Euro, die der Bund für Schulsanierungen bereitgestellt habe, sei das „sicher auch eine Möglichkeit für die Region hier“, sagt sie. Die Botschaft soll sein: Die „schwäbische Hausfrau“ weiß um die kleinen und großen Nöte im Alltag der Landeskinder, sie kümmert sich. In bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus hat Merkel aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik eine gehörige Portion Vertrauen verspielt. Angesichts der Tausenden, die im Sommer und Herbst 2015 täglich über die Grenzen strömten, war das Land verunsichert. Böse Worte wie „Kontrollverlust“ machten die Runde. Die Flüchtlingspolitik wurde zum Jungbrunnen für eine Partei, die sich gegen die Rettungsmilliarden in der europäischen Staatsschuldenkrise gegründet hatte. Die AfD, eigentlich dahinsiechend auf der Intensivstation, bekam eine lebensrettende Infusion. Merkels Politik hat eine Gruppierung rechts der Union vermutlich dauerhaft etabliert. Die Erbsünde schlechthin, würde der christsoziale Säulenheilige Franz Josef Strauß poltern. Andererseits hat die Merkel-CDU damit in eher progressiven Milieus Sympathien hinzugewonnen. Das könnte die Koalitionsoptionen nach der Bundestagswahl mehren. Merkel hat inzwischen eingeräumt, die Flüchtlingsproblematik nicht rechtzeitig angegangen zu sein. Im ersten Halbjahr 2015 war das Augenmerk der Bundesregierung und natürlich des Kanzleramtes auf die europäische Staatsschuldenkrise gerichtet. Es ging um Griechenland, um Rettungspakete – und im Sommer vor allem darum, dass Europa nicht auseinanderfliegt. Zu dieser Malaise hatte ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble beigetragen. Da ist es wieder, das Bild vom Politikverständnis der Angela Merkel: Aktenstapel, die abgearbeitet werden müssen. Der mit der Aufschrift „Flüchtlinge“ hat 2015 zu lange unbeachtet auf dem Schreibtisch der Kanzlerin gelegen. Ein Fehler, wie sie heute bekennt. Sie drückt das natürlich anders aus, spricht nicht von Aktenstapeln, sondern von „Herausforderungen“ und „Aufgaben“. Im Falle ihrer Wiederwahl, so hat sie es verkündet, weiß Merkel heute schon, welche Aktenstapel sie nach dem 24. September auffinden und abarbeiten muss: Die mit den Aufschriften „Digitalisierung“, „Rente“, „Europa“, um nur ein paar zu nennen. Parteitag der Linken, Hannover, im Juni 2017. Abseits an einem Bistrotisch, Gedankenaustausch mit einem Linken-Bundestagsabgeordneten. Er fragt sinngemäß: „Hat denn Angela Merkel gar keine Visionen?“ – Antwort: „Visionen? Wäre mir neu!“ … Die Serie Die bisherigen Beiträge sind erschienen am 11. September (AfD), 12. September (Linke), 13. September (FDP) und 14. September (Grüne).

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